Serie ÜberLeben:Auf einem Bein durchs Leben

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Drei Bilder aus einem Leben: Christoph trainiert täglich, sein derzeitiger Prothesenfuß im Vergleich zu seinem ersten und er selbst beim Seilspringen. (Foto: Karina Sturm)

Christoph überlebt mit drei Jahren einen schrecklichen Unfall und verliert ein Bein. Heute ist der 14-Jährige ein ganz normaler Teenager, der schwimmt, Ski fährt und für die Paralympics trainiert.

Von Karina Sturm

Als der Hubschrauber des Rettungsdienstes minutenlang über dem Ort kreist, ist allen Dorfbewohnern klar: Es muss etwas Schlimmes passiert sein. Doch niemand ahnt, was ein Dreijähriger in diesen Minuten erlebt.

Das Kind spielt oft auf der großen Wiese hinter dem Haus in der warmen Nachmittagssonne. Doch an diesem Tag hätte er eigentlich nicht dort sein sollen. Das hohe Gras sollte weichen. Als er den Rasentraktor sieht, ist es schon zu spät. Sein Bein gerät unter die Maschine und plötzlich wird alles um ihn herum schwarz.

Holzheim, ein 1700-Einwohner-Ort in der Oberpfalz, etwa 25 Kilometer südöstlich von Nürnberg. Es ist der 13. Juni 2007. Ein sonniger Tag. Der kleine Junge, der schwerverletzt in der Wiese liegt, heißt Christoph Glötzner. Nachbarn hören die angsterfüllten Rufe seiner Eltern und eilen zu Hilfe. Darunter sind auch zwei Rettungssanitäter. Christophs rechtes Bein ist am Oberschenkel abgetrennt. "Du musst sofort kommen, Christoph verblutet!", brüllt sein Vater ins Handy. Am anderen Ende der Leitung ist ein bekannter Arzt, der im Ort wohnt und sofort kommt. Dann ein glücklicher Zufall. Der Rettungs-Helikopter ist ganz in der Nähe unterwegs. "Wer weiß, wie es ausgegangen wäre, wenn der Hubschrauber erst starten hätte müssen", sagt Walter Glötzner, Christophs Vater.

25 Kilometer sind es bis ins Krankenhaus nach Nürnberg. Trotz starker Medikamente wacht Christoph während des Fluges auf. "Wann darf ich wieder nach Hause?", fragt er.

Zwei Wochen lang schwebt der Dreijährige in Lebensgefahr. 13 Mal operieren die Ärzte. "Jedes Mal, wenn wir im Krankenhaus ankamen, wurde uns mitgeteilt, Christoph sei schon wieder im Operationssaal," sagt Bettina Glötzner, die Mutter, heute, fast zwölf Jahre später.

Dass das Bein so weit oben am Oberschenkel abgetrennt worden ist, erweist sich als großes Problem. Das Ziel der Chirurgen: den Stumpf verlängern, damit Christoph später einmal leichter Prothesen tragen kann. Doch der Versuch, den Unterschenkel an den Stumpf zu transplantieren, misslingt. Christophs Körper stößt das Transplantat ab. Die Blutwerte verschlechtern sich, eine Entzündung breitet sich immer weiter aus. Fast stirbt der Junge.

Als Christoph nach zwei Wochen von der Intensivstation auf die normale Station verlegt wird, muss die Wunde am Stumpf mit einem Hauttransplantat verschlossen werden. Die Ärzte entnehmen ihm dafür Haut vom Hinterkopf. Es ist bei einem Dreijährigen die Körperstelle, die die größtmögliche Fläche bietet. Sein heute 16-jähriger Bruder rasiert sich ebenfalls den Kopf kahl - aus Solidarität. Es schafft eine Verbindung zwischen den beiden, die bis heute besteht.

Er glaubt, sein Bein werde irgendwie nachwachsen

Nach vier Wochen schließt sich die Wunde, auch das Haar am Hinterkopf wächst langsam nach. Vom Krankenhaus geht es in die Reha. Langsam werden die Schmerzmittel ausgeschlichen, die Dosen also immer weiter verringert. Nun muss Christoph lernen, mit einem Bein zu leben und mit einer Prothese zu laufen. Der Junge ist noch so klein, dass das Verbindungsstück zwischen Prothese und Bein nicht passt. Die Ärzte improvisieren und setzen ihm ein Teil ein, das eigentlich für Arm-Prothesen dient.

Christoph weint oft. Er versteht nicht, warum er die unbequeme Prothese tragen soll. Er glaubt, sein Bein werde irgendwann wieder nachwachsen. Weil er nicht laufen kann, krabbelt er. "Es war damals eine Berg- und Talfahrt der Gefühle. Wir hatten ganz schlechte Tage und dann wieder bessere. Wir mussten ihn motivieren und jeden Tag einen Schritt mehr schaffen", sagt Christophs Mutter. Spielerisch lernt Christoph mit der Zeit, die Prothese als Freund zu sehen, sie als etwas zu akzeptieren, das ihm hilft. Zwei Monate nach dem Unfall gelingen ihm seine ersten Schritte mit der Prothese. Die ganze Familie feiert ihn.

Auch Fritz Haas, damals Chefarzt der Spezialklinik für Amputationsmedizin in Osterhofen bei Deggendorf, ist eine große Stütze für Christoph. Haas, früher Motoradfahrer, ist selbst oberschenkelamputiert. Es war 1987, ein betrunkener Autofahrer geriet auf die Gegenfahrbahn. Auf seine. Er weiß genau, wie es Christoph geht und was er und seine Familie jetzt brauchen: Pause von der Intensiv-Reha. Außerdem nimmt er dem Jungen den Rollstuhl weg. Haas ist sich sicher: Sobald ein Amputationspatient sich zu sehr an den Rollstuhl gewöhnt, wird er nie wieder aufstehen und sich bewegen. Es gelingt. "Die ersten zwei Tage saß Christoph nur auf dem Boden, aber in den 14 Tagen danach erlernte er das Laufen wieder. Bis heute haben wir keinen Rollstuhl", sagt Bettina Glötzner.

Heute ist Christoph 14 Jahre alt. Mittlerweile besitzt er drei Prothesen: eine für das tägliche Gehen, eine für den Sport und eine, mit der er ins Wasser kann. In seinem Zimmer steht eine Kiste voller Prothesen, aus denen er herausgewachsen ist, mit Spiderman- und Darth-Vader-Motiven. Auf der Prothese, die Christoph derzeit benutzt, klebt das berühmte Zitat von Julius Cäesar: Veni Vidi Vici - Ich kam, sah und siegte.

Christoph Glötzners erste Fußprothese (Foto: Karina Sturm)

Nur wieder Gehen zu können, reichte Christoph nicht. Er wollte alles tun, was andere Kinder auch können. Skifahren zum Beispiel. Schon vor dem Unfall, da war er gerade drei Jahre alt geworden, fuhr er die Piste hinab. Aber wie sollte das mit nur einem Bein funktionieren? Wieder ist es der Chefarzt der Klinik, der Christoph motiviert. Er bringt ihm in seiner Freizeit das Krückskifahren bei. Dabei steht Christoph mit dem gesunden Bein in einem Ski und nutzt zwei Stöcke, an deren Enden kleine Skier befestigt sind, um das fehlende Bein auszugleichen. "Am Anfang habe ich mich schon immer gefragt, wie ich das denn schaffen soll, aber dann habe ich mir gesagt: einfach nicht aufgeben!", sagt Christoph.

Bereits sechs Monate nach den Operationen rast er im Bayerischen Wald den Steinberg hinab. Auf einem Bein. Auf einem Video sieht man Christoph seinem Vater davon fahren; er bremst, dreht sich zur Kamera und fragt: "Bin ich sauber genug gefahren?"

Als Christoph acht Jahre alt ist, wird er von einem Trainer des paralympischen Skikaders angesprochen. "Damals war ich noch zu klein, um mir irgendetwas zu denken, aber jetzt im Nachhinein ist es schon ziemlich cool", sagt er. Ein Jahr später folgt der bislang größte Erfolg, der zweite Platz bei den bayerischen Meisterschaften. Mittlerweile fährt er internationale Rennen, fast jedes Wochenende steht er im Winter irgendwo auf der Piste. Pitztal und Abtenau in Österreich oder Obersaxen in der Schweiz. Irgendwann als Skifahrer bei den Paralympics teilzunehmen und vielleicht sogar eine Medaille zu gewinnen, das ist sein großer Traum. Ein Traum, der gar nicht so weit weg ist.

Christoph Glötzner beim Krückskifahren. (Foto: Gerhard Gruber)

Christoph Glötzner ist ein zurückhaltender, höflicher und wortgewandter junger Mann, der beim Sport aufblüht und sich ständig neuen Herausforderungen stellt, so wie kürzlich, als er das Bronze-Abzeichen für Rettungsschwimmer ablegte. "Mit den Armen mache ich genau dasselbe wie normale Schwimmer auch, nur mit dem Bein schwimme ich wie andere beim Kraulen. Da gibt es überhaupt keine Probleme", sagt Christoph. Im Keller trainiert er täglich seine Beinmuskulatur und springt mit einem Bein Seil. Seine Frequenz ist dabei so hoch, dass er bei jedem Sprung einen Meter versetzt aufkommt. Aber er fällt nie. Er sieht sich auch nicht als "anders" im Vergleich zu anderen Jugendlichen und ist überall gut integriert. Nicht nur sportlich hat Christoph ehrgeizige Ziele. Auch im Gymnasium lernt der Teenager fleißig. Er möchte Arzt werden, genau wie sein Vorbild, der Chefarzt der Reha-Klinik. Auch ein Sportstudium würde ihm gefallen.

"Es bringt nichts, sich ständig zu sagen, dass man nur ein Bein hat und dass alles ganz schlimm ist. Das Leben macht viel mehr Spaß, wenn man an das Gute denkt", sagt Christoph. Es ist die Fähigkeit, die Ärzte und Psychologen Resilienz nennen. Humor gehört auch dazu. Als er Fahrradfahren lernte, verlor Christoph seine Prothese auf halber Strecke. "Das Kind hinter uns hat gerufen: Mama, Mama, der hat sein Bein verloren!", erzählt Christoph - und lacht dabei.

Seine Familie blickt heute mit Stolz auf die schwere Zeit zurück. Zusammen haben sie alle Hindernisse überwunden. Christoph kann seine Träume verwirklichen. Vielleicht liegt das auch daran, dass er, wie seine Mutter erzählt, nie fragt: "Kann ich das?", sondern: "Was muss ich tun, um das zu schaffen?"

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