Serie: Körperbilder (14):Das Leben ist eine Baustelle

Alles wächst, doch nichts scheint richtig. In der Pubertät ist der Körper im Ausnahmezustand - die schwierige Selbstwahrnehmung von Jugendlichen.

Titus Arnu

Mir ist aufgefallen, dass mein Sperma mal durchsichtig und mal trüb ist", schreibt René, 15, in der aktuellen Bravo, "ist das normal oder kann das auch von häufiger Selbstbefriedigung kommen?" Das Dr.-Sommer-Team empfiehlt, mal einen Tropfen Samenflüssigkeit unter dem Mikroskop zu untersuchen - und beruhigt René, alles sei ganz normal und in Ordnung.

Serie: Körperbilder (14): In "Mädchen Mädchen" (2001) warten diese drei Grazien verzweifelt auf ihren ersten Orgasmus

In "Mädchen Mädchen" (2001) warten diese drei Grazien verzweifelt auf ihren ersten Orgasmus

(Foto: Foto: dpa)

"Meine Mitschülerinnen haben alle schon Brüste und ihre Tage", schreibt Tina, 12, "nur bei mir tut sich noch nichts." Das Dr.-Sommer-Team beruhigt: "Mach dir keinen Stress, Tina, denn so wie es ist, ist es okay."

Alles okay? Kein Stress? Ganz normal? Aus der Sicht von pubertierenden Jugendlichen ist absolut nichts normal, denn plötzlich ist nichts mehr so, wie es war. Alles ist Stress. Betroffene werden von Gefühlsausbrüchen gebeutelt, sie verändern sich fast täglich, sie sind sich selbst ein Rätsel. Körper und Gehirn werden in den Teenagerjahren grundlegend umstrukturiert. Dabei bleibt manches auf der Strecke: das Lieblingskuscheltier, die Vernunft, die Unbekümmertheit. Robert Musil umschrieb diesen krassen körperlichen Vorgang im Roman "Der Mann ohne Eigenschaften" recht poetisch: "Eine Wiese von Zärtlichkeit, in der man bis dahin gespielt hat, wird abgemäht, um Futter für einen bestimmten Trieb zu gewinnen."

Sophie, eine 14-jährige Schülerin aus München, drückt es kürzer aus: "Alles wächst." Ihre Freundin Laura sagt: "Pubertät ist eine Art Testphase, in der man für sein späteres Leben ausprobiert, was man machen will." Und der 12-jährige Mark ergänzt: "Ich verstehe unter Pubertät, dass die Mädchen meistens zickig sind." Das Zickige hat biologische Ursachen, die Gefühlsschwankungen werden durch körperliche Veränderungen verursacht, die nicht nur das Aussehen betreffen, sondern vor allem das Verhalten.

Forscher der San Diego State University in Kalifornien machen Umbauvorgänge im Hirn für das Pubertäts-Chaos verantwortlich. Wenn sich Kinderkörper in Erwachsenenkörper verwandeln, werden massenhaft neue Nervenverbindungen in der Großhirnrinde geknüpft, andere Nervenverbindungen werden abgeschaltet. Etwa 30.000 Synapsen gehen bei dieser Umstrukturierung pro Sekunde verloren. Dies könnte zu den unberechenbaren und von Eltern gefürchteten Zuständen führen, unter denen Teenager leiden.

Hirnforscher konnten nachweisen, dass die Fähigkeit, mit Gefühlen umzugehen, mit Beginn der Pubertät um 20 Prozent absinkt. Allen Erkenntnissen zum Trotz rätseln die Wissenschaftler aber immer noch, wie genau in den Körpern von Kindern der Sprung zum Erwachsensein vor sich geht.

Selbst wenn Biologen die Pubertät bis in die letzte Aminosäurenverbindung erklären könnten, wäre das den Jugendlichen in der Praxis wohl keine große Hilfe. Es herrscht für sie in dieser Zeit große allgemeine Verunsicherung, vor allem in körperlichen Dingen, was immer wieder zu lustig klingenden Anfragen an die Bravo führt: "Ich hab' gehört, dass man nicht schwanger werden kann, wenn man sich die Scheide nach dem Samenerguss mit Cola ausspült. Stimmt das wirklich?" Die Aufklärer von Bravo, seit Jahrzehnten eine Instanz in solchen intimen Fachfragen, werden nicht müde, drastisch zu antworten - zum Beispiel, dass Cola eben kein geeignetes Verhütungsmittel sei.

Geburtstagswunsch Schönheits-OP

"Gerade in Sachen Verhütung gibt es noch viele Irrtümer und Wissenslücken", sagt Marthe Kniep, Leiterin des Dr.-Sommer-Beratungsteams. Der Bedarf an Aufklärung hat sich durch einschlägige Internet-Foren und frei verfügbare Pornofilme im Netz nicht geändert.

Es gibt aber Themen, die Dr. Sommer - hinter dem Pseudonym verbirgt sich ein Team aus Pädagogen, Psychologen und Therapeuten - mehr Sorgen machen. Das größte Problem, mit dem Teenager im Alter zwischen elf und 17 Jahren in Deutschland zu kämpfen haben, sei ein zunehmend gestörtes Verhältnis zum eigenen Körper, sagt Kniep.

Dies ist durch eine repräsentative Studie zum Thema Liebe, Körper und Sexualität belegt, die in dieser Woche in München vorgestellt wurde. Bravo hatte zusammen mit dem Meinungsforschungsinstitut Iconkids.&.youth 1228 Jugendliche aus ganz Deutschland befragt. Dabei kam heraus: Es ist gar nicht der Sex, um den sich heutzutage bei jungen Leuten alles dreht. Es sind die teilweise überzogenen Ansprüche der Teenager an sich selbst. Was auffällt, ist eine wachsende Diskrepanz zwischen dem Körper und der Körperwahrnehmung.

Die meisten pubertierenden Teenager (78 Prozent) sind nach dem Body Mass Index normalgewichtig, sehen das selbst aber anders. Die Jungen sind weitgehend mit ihrem Körper zufrieden, zwei Drittel der Befragten fühlen sich wohl in ihrer Haut. Aber mehr als die Hälfte der befragten Mädchen sind der neuen Studie zufolge unzufrieden mit ihrem Körper, besonders die Problemzonen ("Bauch, Beine, Po, Brüste") werden ständig kritisch begutachtet. Nicht mal die Hälfte der 16- bis 17-jährigen Mädchen ist mit dem eigenen Gewicht zufrieden. Ein Drittel der Mädchen und zehn Prozent der Jungen zwischen elf und 17 Jahren haben laut der Bravo-Studie schon mal eine Diät gemacht. Schon Elfjährige fangen an, sich dünnzuhungern. Jedes vierte Mädchen würde sich über eine Schönheitsoperation als Geschenk freuen.

Eine Untersuchung der Heidelberger Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Heidelberg scheint diesen Trend zu bestätigen. Bei der Auswertung von mehr als 5000 Fragebögen, die von 15-Jährigen ausgefüllt worden waren, ist den Forschern aufgefallen, dass etwa ein Drittel der normalgewichtigen Mädchen sich als zu dick empfindet. "Diese verzerrte Körperwahrnehmung ist erschreckend", sagt Marthe Kniep. Sie tut sich etwas schwer damit, einen Zusammenhang zwischen den Umfrageergebnissen und den Casting-Shows im Fernsehen für den Schlankheitswahn bei Jugendlichen verantwortlich zu machen, schließlich lebt die Bravo auch von solchen Themen.

Frühreif durch Fastfood

Frühreif durch Fastfood

Sind die Jugendlichen von heute immer frühreifer und haben sie immer früher Sex? Dieses Klischee lässt sich nicht so einfach bestätigen. Der Zeitpunkt der ersten Regel hat sich mehreren medizinischen Studien zufolge zwar innerhalb der vergangenen 150 Jahre in den Industrieländern verschoben. Früher waren die Mädchen bei der ersten Monatsblutung 17 Jahre alt, heute sind sie durchschnittlich zwölfeinhalb.

Diese Entwicklung wird hauptsächlich auf bessere Ernährung, medizinische Versorgung und Hygiene zurückgeführt. Eine weitere Rolle spielt möglicherweise das Übergewicht, unter dem in den letzten Jahren immer mehr Kinder leiden. Es gibt Hinweise darauf, dass Fettzellen die körperliche Reifung beschleunigen. Auch Umweltgifte und östrogen-ähnliche Stoffe, die in Fastfood enthalten sein können, werden von einigen Wissenschaftlern für die immer früher einsetzende Geschlechtsreife verantwortlich gemacht.

Forscher der Universität Florenz wollen noch einen weiteren Grund entdeckt haben: Sie behaupten, dass es einen Zusammenhang zwischen Fernseh- und Computerkonsum und dem Beginn der Pubertät gibt. Die abenteurliche These: Durch die Strahlung der Monitore verringert sich das Hormon Melatonin; die niedrigere Konzentration dieses Hormons im Körper soll angeblich Einfluss auf den Beginn der Geschlechtsreife haben.

In den vergangenen 15 Jahren ist jedoch das Alter, in dem bei den Mädchen die erste Monatsblutung eintritt, einigermaßen konstant geblieben. Und trotz der vielbeschworenen Übersexualisierung der Gesellschaft hat sich auch das Sexualverhalten der Teenager laut der neuen Bravo-Studie im Vergleich zu früheren Umfragen kaum geändert. Nach wie vor hat die Mehrheit (70 Prozent) der Jugendlichen zum ersten Mal Sex im Alter zwischen 16 und 17 Jahren.

Bevor es zum ersten echten Sex kommt, haben die meisten Jugendlichen schon mal in Pornofilmen gesehen, welch seltsame Verrenkungen Erwachsene manchmal machen. Zwei Drittel der Teenager haben bereits pornographisches Material konsumiert, die wenigsten davon sind allerdings regelmäßige Nutzer. Die Sehnsucht nach Romantik habe unter den doch recht vielfältigen Sex-Angeboten im Internet nicht gelitten, sagt Marthe Kniep vom Dr.-Sommer-Team.

Von einer "Generation Porno", wie sie angesichts des weitgehend unkontrollierbaren Zugangs junger Leute zu pornographischen Inhalten beschworen wird, könne keine Rede sein. Eher von einer Kuschel-Generation: Die Sehnsucht der Heranwachsenden nach Romantik und Liebe wächst. Für zwei Drittel der Mädchen sind Liebe und Sex untrennbar miteinander verbunden.

Eine wichtige Botschaft, die Eltern von pubertierenden Jugendlichen aus der Dr.-Sommer-Studie herauslesen können, lautet also: Alles okay. Alles ganz normal. Kein Stress. Cool bleiben.

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