Serie: Körperbilder (10):Die schwere Kunst der Leichtigkeit

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"Es ist eine Suche nach Perfektion, die niemals endet": Eine Begegnung mit Lisa-Maree Cullum, Solistin am Bayerischen Staatsballett.

Tanja Rest

Wenn im Fernsehen ein Marathonläufer auf die Ziellinie zurast und die Bildregie auf Zeitlupe schaltet, kann man den Schmerz sehen. Vielmehr: die Fratze des Schmerzes, Gebiss entblößt, Backen pumpend, Stirn glitzernd vor Schweiß, die Augen wie in fassungslosem Erstaunen aufgerissen. Die Zeitlupe ist eine Verräterin. Sie zeigt, was es kostet.

Balletttänzerin Lisa-Maree Cullum: "Du hast das Gefühl, du stirbst auf der Bühne, weil es so hart ist." (Foto: Foto: Stephan Rumpf)

Als an diesem Abend Lisa-Maree Cullum auf der Bühne des Bayerischen Staatsballetts ihre allerletzte Arabeske tanzt, hat sie ein Pensum hinter sich, das einem Hochleistungssportler den Atem rauben würde. Der Part der Medora im Klassiker "Le Corsaire" fordert alles - die ganze schwere Kunst der Leichtigkeit.

Raumgreifende Grands jetés im ersten Akt. 32 auf einer einzigen Spitze gedrehte Fouettés im zweiten. Technisch komplizierte Variationen im dritten. Zwei Stunden lang hat sie sich wie ein Grashalm gebogen, von ihrem Partner in die Höhe stemmen lassen, sie ist im Spagat durch die Luft geflogen, hat unzählige schwierige Diagonalen getanzt - und dabei so schwebend leicht und heiter ausgesehen, als koste es nichts.

Als Lisa-Maree Cullum an den Bühnenrand tritt und sich verbeugt, beklatscht das Publikum die perfekte Illusion.

Ballett ist ein Marathon mit einem Lächeln auf den Lippen.

"Oh, ich hoffe doch, dass es leicht aussieht! Auch wenn du das Gefühl hast, du stirbst auf der Bühne, weil es so hart ist: Für das Publikum soll es wie ein Märchen sein." Sie sitzt in ihrer winzigen Garderobe unterm Dach des Münchner Opernhauses, umgeben von Ballettfotos, Stapeln zerfranster Spitzenschuhe und leblos am Haken hängenden Tutus.

Lisa-Maree Cullum, 36, Neuseeländerin, Erste Solistin am Staatsballett seit zehn Jahren: Sie hat den Körper kurz vor der Probe in einem harlekinartigen Wohlfühlgewand verborgen und knöchelhohe Fellpantoffeln an den Füßen, von denen der eine wie von selbst auf der Spitze balanciert. Klassisches Ballerinengesicht: Mittelscheitel im dunklen Haar, hohe Wangenknochen und große, ein wenig schräge Augen, denen man jetzt, am Nachmittag, die Müdigkeit ansieht.

Sie sagt, sie spüre ihre Knieoperationen. Und dass ihr nach harten Rollen die Füße weh tun. "Während der Vorstellung merke ich nicht viel davon. Man muss die Arbeit im Ballettsaal lassen, um die Bühne zu genießen."

Und vielleicht ist es ja wirklich so, dass der Tänzer auf die Bühne hinübertritt wie in ein anderes Leben. Dass er den Schmerz, den Drill, die Erschöpfung dort oben abstreift, damit er mit seinem Körper Bilder malen kann, jede Sekunde ein neues. Sie sagt: "Ein bisschen Fußschmerz ist ein kleiner Preis."

Eine Ballerina muss zerbrechlich aussehen und doch stark sein. Sie braucht viel Kraft, doch diese Kraft darf man nicht spüren. Sie muss ackern wie ein Schwerstarbeiter, aber tanzen wie eine Elfe.

Sechs Arbeitstage hat Lisa-Maree Cullums Woche, die Stunden zählt sie nicht. Vormittags Training, mittags Probe, dann eine Pause - "wenn man Glück hat" -, am Nachmittag oft noch eine Probe, abends Vorstellung. Manchmal, wenn sie sich an die Ballettstange stellt oder eine Pirouette zum hundertsten Mal probiert, denkt sie: Oh Gott, schon wieder. "Aber es gehört einfach dazu. Auch wenn man im Kopf die Schritte kennt, der Körper vergisst sie sehr schnell."

Der Ballerinenkörper ist eine seit mehr als 150 Jahren gültige Chiffre für Fragilität und Grazie, die ein erbarmungsloser Geist ersonnen hat. Kindlich flach und biegsam soll er sein, mit Storchenbeinen, einem Schwanenhals und so dünn, dass sich unterm Trikot der Rippenbogen wölbt.

"Esst nicht weniger", pflegte der große russische Ballettmeister George Balanchine seinen Tänzerinnen zu sagen, "esst nichts." Viele Ballerinen leiden an Magersucht, schlucken Appetitzügler oder erbrechen sich, um ihr Gewicht zu halten. Die amerikanische Star-Solistin Gelsey Kirkland nahm schließlich Kokain, weil sie dem Druck nicht mehr standhielt.

Lisa-Maree Cullum passt nicht in dieses Raster, sie hat Busen und Hüfte; mit 49 Kilo bei einer Größe von 1,64 Meter ist sie schlank, aber nicht dünn. "Früher hatte ich Probleme damit", gibt sie zu. "Heute glaube ich, dass es das Publikum genießt, auf der Bühne eine Frau zu sehen und kein Skelett." Am allerliebsten mag sie ihre Füße. "Meine Füße sind rechteckig! Fürs Ballett perfekt." - Ob man diese Füße einmal sehen dürfe?

Sie sind klein und kompakt, mit hohem Spann und leicht verdickten Zehgelenken, die Zehenspitzen bilden eine gerade Linie. "Die anderen Mädchen sagen immer: Wenn du in Rente gehst, lass deine Füße da."

Am Rand des großen Zehs ist die Hornhaut fingerdick. Manche Ballerinen stopfen Toilettenpapier in ihre Spitzenschuhe, um den Schmerz zu dämpfen. Lisa-Maree Cullum nimmt Schafwolle. Ihre Schuhe werden in London maßgefertigt, ein Paar braucht sie pro Vorstellung. Etwa 150 pro Saison.

Es gibt nicht viel Raum für anderes in einem Leben, in dem jedes Jahr 150 Paar Spitzenschuhe zertanzt werden müssen. Sie fährt Fahrrad, kümmert sich um ihre Katzen und sitzt nach der Vorstellung mit ihrem Mann, der ebenfalls Tänzer ist, gern zu Hause auf dem Sofa.

Der Rest gehört dem Ballett. Disziplin, Besessenheit, auch: Bereitschaft zu leiden, das alles braucht es, um diese totale Fokussierung auszuhalten. Bloß keine Selbstzufriedenheit. Wer an sich selbst zu viel Gefallen findet, der stellt sich nicht zwei Stunden täglich an die Stange, um die Krümmung des Zeigefingers, die Neigung des Halses, das Spiel der Beine beim Plié um diesen einen Millimeter zu korrigieren, der die ideale Linie ausmacht.

"Ballett ist eine Suche nach Perfektion, die niemals endet", sagt sie. "Dieser Gedanke: Mein Ich kann das besser, der begleitet einen." Der Tänzer kann das Theater und das Studio verlassen, das Ballett aber lässt er niemals hinter sich - es sei denn, er geht ganz.

Lisa-Maree Cullum hat ihre Ausbildung an der Schule ihrer Mutter begonnen, da war sie drei. "Ich wusste, dass ich geboren bin, um Tänzerin zu sein", sagt sie. Mit 17 debütierte sie beim English National Ballet, wechselte dann zum Ballett der Deutschen Oper Berlin und schließlich nach München.

Sie hat vom Dornröschen bis zur Giselle alle großen Ballerinenrollen getanzt und zahlreiche Preise bekommen; ihre Fußtechnik gilt als unfehlbar. Ihre wohl größte Leistung aber hat sie außerhalb des Balletts erbracht, beziehungsweise: auf dem Weg zurück dorthin.

Es hatte Warnsignale gegeben, Schmerzen im Knie, die sie ignoriert hatte. Im September 2007 riss ihr bei einer Probe im linken Knie die Patellasehne. Zwei Operationen folgten. Es sei ihr in diesem Moment egal gewesen, ob sie ihre Karriere fortsetzen oder nur für eine einzige Vorstellung auf die Bühne zurückkehren würde: Wichtig sei allein gewesen, noch einmal zu tanzen. "Ich wollte selbst entscheiden, wann ich aufhöre. Ich wollte nicht, dass mein Körper diese Entscheidung für mich trifft." Und so begann ihr Kampf.

Der lange Weg auf Krücken

Aufgehoben der vertraute Dreiklang aus Probe, Training, Auftritt. Die Verletzung gab den Takt vor. Lisa-Maree Cullum ging an Krücken, machte ihre Übungen, sie schleppte sich täglich zur Therapie und schließlich auch zu einer Psychologin. Die sagte: "Du bist nicht verrückt, aber leicht deprimiert, Lisa."

Das Ballett mied sie. Weil sie auf die Fragen, wie es ihr gehe, ob und wann sie endlich wiederkäme, keine Antworten hatte. Und weil sie es nicht aushielt, die anderen tanzen zu sehen, nicht mehr Teil dieser Welt zu sein. Sie nahm zehn Kilo zu, weil ihr die Bewegung fehlte. Zehn Kilo Übergewicht sind auch für einen Büromenschen keine Kleinigkeit. Für eine Ballerina sind sie ein Desaster. Sie sagt: "Ich habe nie daran gedacht, aufzugeben. Nie."

Man kann die Leidenschaft und die Sturheit erahnen, die Lisa-Maree Cullum an die Spitze der Compagnie gebracht haben - und schließlich, nach einer Pause von 13 Monaten, auch wieder zurück auf die Bühne.

Sie muss noch immer ihre Knieübungen machen; das Training an der Stange ist fast wichtiger als vor der Verletzung. "Aber wenn ich merke, dass es zu viel wird, dann sage ich heute: Ich kann nicht." Sie ist jetzt 36 Jahre alt. Viele Tänzer hören mit 35 auf, spätestens mit40 ist die Karriere in der Regel vorbei.

Lisa-Maree Cullum kann sich vorstellen, eines Tages anderen Ballerinen dabei zu helfen, die Giselle oder die Julia einzustudieren. Bis dahin will sie weitertanzen - "solange es Rollen für mich gibt. Solange mein Körper mitmacht".

Wenig später betritt sie mit 20 anderen Tänzern den Ballettsaal, sie trägt ihre Spitzenschuhe und das goldene Tutu der Medora aus "Le Corsaire". Das Stück steht seit zwei Jahren auf dem Spielplan des Staatsballetts und muss doch geprobt werden, immer und immer wieder.

Der Mann am Klavier spielt die ersten Takte, Ballettdirektor Ivan Liska gibt das Kommando: "One, two - go..." Zufrieden ist er nicht mit dem, was er sieht. "Zu schnell! Zu individuell!" Lisa-Maree Cullum reibt sich die Stirn und atmet schwer; am Bauch, wo ihr Partner sie gefasst und die Höhe geschwungen hat, sind zwei tiefrote Abdrücke zurückgeblieben. "Nochmal von vorne!"

Es ist eine Schinderei. Aber in ein paar Stunden, auf der Bühne, wird man davon bestimmt nichts merken.

© SZ vom 08.05.2009/mes - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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