Süddeutsche Zeitung

Seminar:Willkommen im Jammertal

In einem Kurs sollen Menschen lernen, ihrem Frust Luft zu machen. Zu Besuch in einem sehr deutschen Seminar.

Von Michaela Schwinn

Ein Edding kratzt über das Flipchart: "Jammern. Auja!", steht da jetzt. Und schon legen die Teilnehmer los. Erst ganz leise, dann immer lauter und wilder wird gejammert. Erst geht es ums Wetter, den Nahverkehr, dann um den Job: die Kunden, die nichts kapieren, die Konkurrenz, die einem die Aufträge wegschnappt. "Wenn es diese Millionäre nicht gäbe, dann ...", setzt der Architekt an, als ein Glöckchen läutet. Erste Runde beendet. "Wie ging's euch?", fragt eine Frau in die Runde. 16 Selbständige sind ins Kreativzentrum im Münchner Westen gekommen. Eine echte Jammertruppe.

Jammertour, so heißt die Aktion, mit der Katrin Pappritz und Yvonne Meyer gerade quer durch die Bundesrepublik ziehen. In Leipzig, Dresden, Berlin, Hannover und Regensburg standen sie schon vor Freiberuflern, um ihnen das Jammern beizubringen. Aber gilt das nicht ohnehin als eine urdeutsche Eigenart? Eine, die schon fast zum guten Ton gehört? "Bei Selbständigen eben nicht", sagt Meyer, 39, braune Kringelhaare, Schlabberpulli. "Wenn wir meckern, heißt es von Freunden oder der Familie sofort: Du hast dich doch dafür entschieden. Jetzt beschwer dich bitte nicht."

Ist Jammern also ein Tabu? Schwer vorstellbar in einer Zeit, in der das berufliche Scheitern quasi zur Kulturtechnik erhoben wurde, deren Stars auf sogenannten "Fuck-up-Nights" dem begeisterten Publikum von ihrem Scheitern berichten. Im Netz findet man unter #YouHadOneJob ein Best-of beruflicher Patzer: falsch verlegte Fliesen, schlecht übersetzte Speisekarten, verstochene Tattoos. Die Gescheiterten sind hier die Helden einer glattgebügelten Arbeitswelt, in der jeder auf Effizienz getrimmt wird. Auch die Buchhandlungen sind voll von Ratgebern wie "Schöner Scheitern", "Kreativer Scheitern", "Spielerischer Scheitern". Und wie es bei allen Trends nimmt auch dieser immer abstrusere Auswüchse an. Die Jammertour zum Beispiel.

Wenn man Meyer glaubt, dann ist bewusstes Jammern auch gar nicht so einfach. Irgendwann gehe nämlich selbst dem größten Jammerlappen die Luft aus, sagt sie. "Wer aber trotzdem weitermacht, der stößt vielleicht auf den wahren Grund, warum er meckert." Statt der fehlenden Homepage ist es eigentlich der Kinderwunsch. Statt zu viel Arbeit die Sehnsucht nach einem verständnisvollerem Partner. Doch nicht überall war die Jammertour willkommen. Von einigen Städten kamen Absagen, das Thema sei zu negativ. Man kann doch nicht immer nur jammern, oder doch?

"Ich fand das jetzt viel zu kurz", kommt es aus der rechten Ecke im Kreativzentrum in München. "Macht echt voll Spaß", aus einer anderen. Ein Architekt zitiert Karl Valentin: "Früher war die Zukunft auch besser." Früher, das war vor 23 Jahren, als der Architekt sich selbständig machte. Als das Wort freiberuflich für ihn noch nach Freiheit klang, nach Leidenschaft und nicht nach Verwaltung und Bürokratismus. Als er und seine Kollegen lieber unter freiem Himmel geschlafen hätten, als sich anstellen zu lassen. "Wir waren Freigeister", sagt er und streicht sich durch die grauen Strähnen.

Seitdem ist kein Jahr vergangen, an dem er das freiberufliche Arbeiten nicht verteufelt hat. Zu wenig Aufträge, zu viel freie Zeit. Zu viele Aufträge, zu wenig freie Zeit. Die Konkurrenz. Die Akquise. "Ich bin eher der melancholische Typ", sagt er. Und ja, das gibt er zu, er jammert gern.

"Nur wer richtig jammert, kommt schließlich ans Ziel"

Pappritz und Meyer, die weiter die Flipcharts bekritzeln, kennen Typen wie diesen Architekten zu Genüge. Die Jammertour sei mehr so eine "Nebenlinie", sagt Pappritz, denn eigentlich bieten sie in Leipzig längere Seminare für Selbständige an. Der Jammer-Kurs solle Spaß machen, gleichzeitig den Teilnehmern aber auch helfen.

Denn auch hier geht es - wie in den Schöner-Scheitern-Ratgebern - natürlich weniger um die Fehler, es geht ums Wiederaufstehen, sich zusammenzureißen, darum ein neues Projekt zu starten. Jammern um des Jammerns willen? Davon halten die Initiatorinnen der Jammertour wenig. "Nach dem Jammern sollte man einen Schritt weitergehen und versuchen, eine Lösung für das Problem zu finden", sagt Meyer. "Nur wer richtig jammert, kommt schließlich ans Ziel", sagt Pappritz. Und so endet auch dieser Kurs bei Strategien, wie man sein Leben erfolgreicher meistert.

Jammern als Medizin also? Oder sogar als Freizeitbeschäftigung? Eine, die das nicht versteht, sitzt ganz hinten im Kursraum, ein wenig gebückt, so als wolle sie am liebsten verschwinden. "Ich wollte mich überwinden. Aber nein, das hier ist gar nichts für mich", sagt die Frau, in ihren blonden Zöpfen steckt eine Ray-Ban-Sonnenbrille. Nach ihrem Studium machte sich die Musikerin selbständig. Seit 20 Jahren bringt sie Menschen bei, wie man Percussion-Instrumente spielt, Bongos, Congas und andere Trommeln. Sie habe die Dinge gerne selbst in der Hand, sagt sie. Ob es denn gar nichts gebe, was sie an ihrer Arbeit störe, fragt der Architekt. Nein, wirklich alles super. Die Frau ist offenbar jammerresistent.

Um halb acht, als der Grillduft von draußen hereinzieht, sind die Apfelschorlen leer, die Flipcharts voll und die Teilnehmer so richtig in Jammer-Laune. Letzte Aufgabe: ein Bullshit-Bingo mit Jammer-Sprüchen. Zur Inspiration quasi. "Warum gerade ich?", platzt es aus dem Architekten heraus, "Hätte ich doch lieber ...", kommt es zaghaft von der Musikerin, die also doch nicht ganz unbegabt in Sachen Jammern ist. "Das ist doch alles Mist", legt einer jetzt nach. "Ich hab noch einen", sagt der Architekt und hebt den Zeigefinger. Da aber erklingt das Glöckchen.

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Quelle:
SZ vom 31.07.2017
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