Süddeutsche Zeitung

Selbstverteidigung:Deutschland bewaffnet sich

Doch woher kommt das Schutzbedürfnis, wo doch die Zahl der Straftaten nicht gestiegen ist? Ein Boxtrainer, ein Psychiater und eine Waffenhändlerin erzählen.

Von Renate Meinhof, Berlin

Sie sind nicht ungebildet, unpolitisch oder gar hysterisch, diese Frauen, die ja alle schon erlebt haben, wie es ist, wider Willen von einem Mann angefasst zu werden, im Gedränge der U-Bahn zum Beispiel, und dann diese Hilflosigkeit zu spüren, die der Wut doch ganz zuwider läuft. Soll ich schreien? Die Polizei holen? Und jetzt sind sie in einem Fitness-Studio, mitten in Berlins altem Westen, um bei Dirk Kalinowski, dem Boxtrainer, zu lernen, wie man sich im Notfall verteidigen kann. Kalinowski, der die Silvesternacht von Köln eine "Initialzündung" nennt.

Deutschland bewaffnet sich. Das klingt natürlich martialisch, aber tatsächlich schnellt die Zahl der sogenannten kleinen Waffenscheine rasant in die Höhe. Waffenhändler haben traumhafte Umsätze, und Waffenhersteller kommen mit der Produktion gar nicht nach. Die Ereignisse der Silvesternacht in Köln, Hamburg und Stuttgart, die massenhaften Übergriffe auf Frauen, haben das Land verändert. Aber woher kommt der Drang, sich zu bewaffnen, wo doch der Bericht des Bundeskriminalamtes zeigt, dass der heftige Anstieg der Zuwandererzahlen sich gerade nicht in der Kriminalitätsstatistik widerspiegelt?

Man findet Antworten bei Philipp Sterzer, der Psychiater ist an der Berliner Charité. Er erzählt, dass das menschliche Gehirn durch die Evolution extrem fein darauf abgestimmt sei, Gefahren zu erkennen. Deshalb spielten Ängste eine so große Rolle in der Wahrnehmung anderer, sagt er. "Wir neigen dazu, aus Stichproben zu verallgemeinern." Es sind kluge Aussagen eines Mannes, der Wissenschaftler und Praktiker zugleich ist.

Aber auch die sehr bodenständige Katja Triebel, Waffenhändlerin aus Berlin-Spandau, kann erzählen, warum plötzlich ältere Damen Revolver kaufen und der Professor seine ganze Familie mit Pfefferspray ausrüstet. Das gebe "gerade manchen Frauen so viel mentale Sicherheit, dass sie auch körperlich ihre Wehrkraft darstellen können".

Von den Menschen, die sich bewaffnen, möchte aber fast niemand den eigenen Namen in der Zeitung lesen, denn da ist viel Scham, und da ist die Angst, man könnte, weil man eine Schreckschusspistole bei sich hat, sofort als Ausländerfeind wahrgenommen werden. Die Recherche für diese Reportage zeigt auch, dass das Vertrauen in die Polizei bei vielen Menschen nicht mehr da ist.

Es hat niemand zu bewerten, wie der Einzelne mit seiner Angst umgeht. Nur, das sagt der Psychiater Sterzer, "die Mechanismen der Angst sind im Gehirn keine Selbstläufer, sie sind beeinflussbar. Man muss sich nicht gleich eine Knarre kaufen. Dann funktioniert unser Zusammenleben nämlich irgendwann nicht mehr."

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