Selbstbehauptung für Kinder:Spielen mit der Angst

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Selbstbehauptungskurse für Kinder sind derzeit populär - doch Psychologen warnen davor, ein falsches Gefühl der Sicherheit zu vermitteln.

Tina Baier

Er ist der Albtraum aller Eltern - der fremde Mann, der Kinder vom Spielplatz lockt und ins Auto zerrt. In der Realität sind solche Fälle selten. Doch die Aufmerksamkeit, die sie in der Öffentlichkeit erfahren, suggeriert eine ständig akute Bedrohung. Aus Angst um ihre Kinder buchen viele Eltern deshalb in jüngster Zeit vermehrt Selbstbehauptungs- oder Selbstverteidigungskurse. Mittlerweile werben Dutzende Anbieter mit den unterschiedlichsten Konzepten für Grundschul- und Kindergartenkinder. Doch machen diese Angebote Kinder wirklich stark und schützen sie davor, von Erwachsenen misshandelt zu werden? Oder handelt es sich nur um einen neuen Auswuchs des wuchernden Marktes für Coaching, Persönlichkeitsoptimierung und sonstige Lifestyle-Angebote?

Lichtmäntel, die vor Bösem schützen - Selbstbehauptungskurse vermitteln oft ein falsches Sicherheitsgefühl. Die Erziehungsarbeit können sie nicht ersetzen. (Foto: Foto: iStockphotos)

Lichtmäntel, die vor Bösem schützen

Die Qualität vieler Kurse ist tatsächlich fragwürdig. "Auf diesem Gebiet gibt es viele selbsternannte Fachleute", sagt Christian Lüders vom Deutschen Jugendinstitut in München. Das Problem ist, dass es keine Zertifizierung gibt. "Im Prinzip darf jeder in Deutschland solche Programme anbieten." So kommen auch zweifelhafte Kurse mit bizarren Inhalten auf den Markt, in denen etwa von Lichtmänteln die Rede ist, die vor allem Bösen schützen sollen.

Doch nicht immer ist der Mangel an Qualität so offensichtlich zu erkennen. "Auch Selbstverteidigungskurse, die ausschließlich auf das Erlernen von Schlagtechniken setzen, sind pädagogisch nicht vertretbar", sagt Christian Böhm von der Beratungsstelle Gewaltprävention in Hamburg.

In einer Diplomarbeit, die Böhm mitbetreut hat, wurde die Qualität von Selbstbehauptungskursen an Hamburger Grundschulen untersucht - mit ernüchterndem Ergebnis. Der Studie zufolge "ist es sehr unwahrscheinlich, dass sich 'trainierte' Kinder im Fall eines Angriffs durch einen erwachsenen Täter mit den erlernten Techniken behaupten können".

"Das bringt gar nichts", sagt Böhm. "Ein 1,30 Meter großes Mädchen hat gegen einen Erwachsenen, der ernsthaft vorhat, ihm zu schaden, keine Chance." Im schlimmsten Fall geben sich Kinder, die trotz eines solchen Kurses Opfer einer Gewalttat geworden sind, auch noch selbst die Schuld daran, weil ihnen vermittelt wurde, dass sie sich wehren sollen und können. Oder sie wiegen sich in falscher Sicherheit und zögern in einer tatsächlichen Gefahrensituation, anstatt davonzulaufen.

Umgekehrt können Kinder durch schlecht konzipierte Selbstbehauptungskurse Ängste entwickeln. Der Anbieter Sicher-Stark aus Euskirchen beispielsweise schickt Grundschüler über einen "Gefahrenparcours", um den "Realitäts-Check" zu machen. Dabei werden Situationen simuliert, in denen etwa ein Schauspieler mit dem Auto neben dem Kind hält und versucht, es durchs Fenster ins Auto zu zerren.

Simulierte Überfälle können tiefe Verunsicherung auslösen

Eine Broschüre, die die Aktion Jugendschutz in Baden Württemberg zusammen mit dem Landeskriminalamt als Orientierungshilfe für Eltern, Schulen und Kindergärten herausgegeben hat, warnt ausdrücklich vor solchen Techniken: "Eine Simulation des Ernstfalls mit realitätsnahen Rollenspielen ist kontraproduktiv (...) Es besteht die Gefahr, dass die Kinder Ängste entwickeln und ähnlich negative Folgen erleiden wie bei einem wirklichen Überfall."

"Angstgefühle lassen wir gar nicht aufkommen", sagt hingegen Ulrich Schulze Forsthövel von Sicher-Stark. "Unsere Trainer achten peinlich darauf, dass die Kinder mit einem Erfolgserlebnis aus dem Kurs kommen." Vorsicht ist der Broschüre aus Baden-Württemberg zufolge auch geboten, wenn der Anbieter eine Erfolgsgarantie gibt, etwa mit "Geld zurück bei Nichterfolg" wirbt, oder wenn viel über steigende Kriminalität, Überfälle und Sexualstraftaten gesprochen wird, um Eltern von der Notwendigkeit eines solchen Kurses zu überzeugen.

"Ein Grundproblem der meisten dieser Kurse ist, dass eine fremde Person mit den Kindern über ein fremdes, heikles Thema spricht", sagt der Heidelberger Psychoanalytiker und Familientherapeut Manfred Cierpka. Zum einen kommen in einer solchen Situation schneller Ängste auf, zum anderen lernen Kinder besser von vertrauten Personen, etwa von ihrer Lehrerin. Cierpka hält es deshalb für sinnvoller, Lehrer entsprechend fortzubilden und solche Themen stärker als bisher in der Schule zu besprechen.

"Ich halte gar nichts von kurzfristigen Selbstbehauptungskursen", sagt er. "Die wenigsten Anbieter können wissenschaftlich belegen, dass ihre Methode tatsächlich etwas nützt." Besonders umstritten ist der Nutzen von Präventionsprogrammen gegen sexuellen Missbrauch. Untersuchungen in den USA zum Programm "Talking about touching" in verschiedenen amerikanischen Schulen haben ergeben, dass die Kinder nach einem solchen Kurs zwar theoretisch mehr über das Thema wissen. "Doch es gibt keine Studie darüber, ob sie dieses Wissen auch anwenden können, wenn es darauf ankommt", sagt Cierpka.

Ziel: Starke Kinder

In einem Punkt sind sich Anbieter von Selbstbehauptungskursen, Psychologen, Lehrer und Erzieher einig: Grundsätzlich ist es wichtig und richtig, Kinder "stark" zu machen. Doch was heißt das überhaupt? "Ein starkes Kind weiß, was es will, was ihm guttut und was ihm schadet", sagt Cierpka. Diese Selbstsicherheit ermöglicht es ihm, sich leichter zu distanzieren, es lässt sich nicht so leicht verführen - egal ob es um Rauchen, Alkohol, Computerspiele oder falsche Versprechungen eines Fremden geht.

"Die Bedingungen, unter denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, haben sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert", sagt Christian Lüders. "Früher reichte es, Kindern ein Set von Regeln an die Hand zu geben. Heute gibt es so viele Angebote und Risiken, dass man oft gar nicht mehr pauschal sagen kann, was richtig und was falsch ist." Kinder müssen deshalb lernen, selbst ein Gefühl dafür zu bekommen, was für sie gut ist und was nicht. Sie sollten Widerstandsfaktoren entwickeln, wie es im Fachjargon heißt. "Im besten Fall kann ein gut gemachter Kurs ein Baustein dabei sein", sagt Lüders. Doch auch der beste Kurs kann die Erziehung der Eltern nicht ersetzen. Nur wie macht man seine Kinder selbstbewusst, und wie warnt man sie vor Gefahren, ohne ihnen Angst zu machen?

"Mit einem Kindergartenkind kann man nicht über sexuellen Missbrauch sprechen", sagt Cierpka. "Aber man kann erklären, dass es draußen nicht nur gute Menschen gibt, sondern auch böse." Am besten sei es, das Thema aufzugreifen, wenn das Kind von sich aus damit anfängt, also beispielsweise etwas über einen bösen Menschen erzählt. Dann könne man sicher sein, dass es sich gerade mit dem Thema beschäftigt.

"Selbstbewusst werden Kinder, die die Erfahrung machen, dass sie etwas bewirken können", sagt Lüders. Alles, was ein Kind schon selbst kann, sollte es auch machen dürfen. Eltern machen ihre Kinder selbstbewusst, indem sie ihnen etwas zutrauen und ihnen Verantwortung übergeben. Doch darf man Kinder dabei auch nicht überfordern, sonst erreicht man das Gegenteil. Ein Zehn-Stunden-Kurs in Selbstbehauptung kann das jedenfalls nicht leisten. Das ist klassische, anstrengende Erziehungsarbeit.

© SZ vom 09.07.2009/aro - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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