Während sich die "Church of Scientology" hierzulande seit jeher scharfer Kritik ausgesetzt sieht, schien die Erfolgsgeschichte dieser "Wissenschaft mentaler Gesundheit" in den USA noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ungebrochen. Ihr Aushängeschild Nummer eins feierte mit "Eyes Wide Shut", "Magnolia" und der Fortsetzung des Agententhrillers "Mission Impossible" die größten Erfolge seiner Karriere. Die Welt lag Tom Cruise zu Füßen, Scientology schien unantastbar.
Im Frühjahr 2013 ist der Eindruck ein völlig anderer: Nach Jahren voller Skandale zeigen zwei neu erschienene Bücher, dass die glatte Fassade der Sekte große Risse bekommen hat, Risse, die kaum mehr zu reparieren sein dürften. Das eine heißt "Beyond Belief: My Secret Life Inside Scientology and My Harrowing Escape". Was auf den ersten Blick wie ein Aussteigerbericht unter vielen aussieht, erhält durch den Namen der Autorin Brisanz: Jenna Miscavige Hill. Die US-Amerikanerin war Mitglied der Sea-Org, einer Art elitären Scientology-Ordens. Sie ist auch die Nichte des schillernden und auch intern höchst umstrittenen Sektenchefs David Miscavige.
In den Interviews zu ihrer Autobiografie berichtet die 28-Jährige, wie sie im Grundschulalter harte, körperliche Arbeit verrichten musste. " Meine Hände waren immer voller Blasen", sagte sie zum Beispiel dem britischen Independent. Wer sich widersetzte, habe eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet bekommen oder eine Nacht in einem heruntergekommenen Raum voller Fledermäuse verbringen müssen."Wenn ich zurückblicke, fühle ich mich, als wäre ich einer kompletten Hirnwäsche unterzogen worden. Ich wusste nicht einmal, was ich mochte oder was für eine Art Person ich war. Ich war nur ein Roboter der Kirche."
Schockierende Berichte über "das Loch"
Miscavige gehört seit ihrem Austritt 2005 zu den schärfsten Kritikern der Organisation und ist inzwischen zweifache Mutter. Als Sea-Org-Mitglied war ihr es einst untersagt, Kinder zu bekommen. Ihre Berichte über drakonische, auch körperliche Bestrafungen für Abweichler jeden Alters passen zu Berichten anderer hochrangiger Aussteiger über das "Loch" - etwa den Schilderungen des Ex-Funktionärs Michael Rinder im SZ-Gespräch. Das Loch, das ist diesen Aussagen zufolge eine Art moderner Kerker auf dem Gelände der internationalen Scientology-Zentrale Gold Base. Seit etwa 2003 werden dort ehemaligen Mitgliedern zufolge in einem Bürogebäude Funktionäre eingesperrt, die bei Sektenchef Miscavige in Ungnade gefallen sind - und sei es aus noch so belanglosen Gründen.
Im Februar 2011 machte außerdem eines der prominentesten Mitglieder sein Zerwürfnis mit der Sekte öffentlich: Paul Haggis, Oscarpreisträger, Regisseur und Drehbuchautor für Filme wie "L.A. Crash" und "Million Dollar Baby". In einem umfassenden, vielgelobten Artikel im New Yorker ließ Haggis den Journalisten Lawrence Wright seine Geschichte erzählen.
Jetzt, zwei Jahre später, hat Wright die Buchfassung dieser Reportage vorgelegt: "Going Clear" erzählt die Geschichte der Glaubensgemeinschaft anhand der Figur des Regisseurs Haggis. "Paul Haggis war 1975 21 Jahre alt", heißt es zu Beginn des Buches. "Er ging in der Londoner Innenstadt (London, Ontario; Anm. d. Red.) auf einen Plattenladen zu, als er an der Ecke Dundas- und Waterloo-Straße einem schnell sprechenden, langhaarigen Mann mit stechendem Blick begegnete." Obwohl er "seinen Skeptizismus nie verlor", wie Wright schreibt, bleibt Haggis L. Ron Hubbards Lehren und der Organisation treu. 35 Jahre lang. Am Ende ist es Kritik der Sekte an der Gleichstellung homosexueller Paare, die Haggis - Vater zweier lesbischer Töchter - an Scientology zweifeln lassen. Im August 2009 erklärt er per Mail seinen Austritt.
Wie Berichte von Ex-Mitgliedern deckt auch Wrights Buch die Arbeitsweise des Systems Scientology auf. Doch er entlarvt die Machenschaften der Gemeinschaft vor allem durch bis ins letzte Detail nachrecherchierte Fakten. Angefangen bei der Behauptung Scientologys, acht Millionen Menschen weltweit zu seinen Mitgliedern zu zählen - dabei identifizieren sich nur 25.000 US-Amerikaner selbst als Scientologen. "Das sind halb so viele wie sich selbst als Rastafaris bezeichnen", schreibt Wright in der Einleitung zu seinem Buch.
Pulitzer-Preisträger Wright lenkt auch den Blick auf jenes Phänomen, das Scientology für potentielle Mitglieder genauso interessant macht wie für Society-Reporter und Kritiker, das aber seit jeher eher Gegenstand von Gerüchten und Legenden war als Thema investigativer Recherche: die Beziehungen der Gemeinschaft zur glitzernden Welt von Hollywood.
Wright schildert in "Going Clear" unter anderem, wie dem legendären Schauspiellehrer Milton Katselas eine Schlüsselposition an der Schnittstelle von Filmwelt und Hubbard-Universum zukam. Bei dem 2008 verstorbenen Katselas belegten Hollywoodgrößen wie Alex Baldwin, Al Pacino, Michelle Pfeiffer oder George Clooney Schauspielkurse. Er "war eine der ertragreichsten Quellen für Rekruten der Kirche und erhielt im Gegenzug eine Vermittlungsgebühr von zehn Prozent des Geldes, das seine Studenten beisteuerten."
Und natürlich trüge Wrights Buch seinen Untertitel "Hollywood and the Prison of Belief" zu Unrecht, gäbe es darin kein Kapitel über Tom Cruise. Als der im vergangenen Jahr mit der Trennung von seiner Frau Katie Holmes für Schlagzeilen sorgte, waren das nicht besonders positive Schlagzeilen. Sie erfassten auch Scientology. Welche Rolle spielte die Glaubensgemeinschaft bei der Trennung?, fragten die People-Magazine. Was bedeutete Cruises Mitgliedschaft für seine Tochter Suri?
Weniger um die Beziehung Cruise-Holmes als um das Verhältnis Cruise-Miscavige geht es Wright in dem Kapitel mit der etwas kryptischen Überschrift "TC und COB" - COB steht für "Chairman of the Board". Der eine war mit 25 gerade dabei, der berühmteste Schauspieler Hollywoods zu werden, der andere übernahm im gleichen Alter die Führung von Scientology. "Es war ganz natürlich", schreibt Wright, "dass zwei so mächtige, isolierte Männer sich ineinander wieder erkannten." Er schildert das luxuriöse Leben Miscaviges, seinen modernen Fitnessraum, den Cruise als einer der wenigen nutzen dürfte. Er beschreibt die Spezialaufträge, bei denen Scientology-Personal ein Motorrad für Cruise umlackierte, das Interieur eines Ford-SUV mit edlem Eukalyptus-Holz verkleidete oder die Angestellten auf Cruises Anwesen schulte.
Tom Cruise wird 50:Vielseitig - auf den ersten Blick
Braver Sportmanager, aggressiver Verführer, versoffener Rockstar: Die Rollen, die Tom Cruise im Lauf seiner Karriere verkörpert hat, könnten unterschiedlicher nicht sein, scheint es. Dabei folgen sie ständig demselben Prinzip. Zum Geburtstag ein Blick auf die vermeintlich vielen Gesichter des Schauspielers.
Pikantes Freundinnen-Casting
Wright rekonstruiert auch noch einmal detailliert jenen angeblichen Rekrutierungsprozess, aus dem Katie Holmes als neue Frau an Cruises Seite hervorgegangen sein soll und über den im September 2012 bereits das US-Magazin Vanity Fair berichtet hatte.
Wrights Ausführungen sind durchweg mit Fußnoten versehen, in denen das Dementi Scientologys oder die Gegendarstellungen von Cruises Anwälten Platz finden. Scientology wehrt sich, wenig überraschend, gegen "Going Clear". Auf lawrencewrightgoingclear.com zum Beispiel. "Das Buch ist ein bigottes, sinnfreies Anti-Scientology-Buch voller Fehler", heißt es dort. Wright habe für seine Recherchen nur mit "wütenden, verbitterten Quellen" gesprochen, deren Motive "auf Hass und Rache" fußten. "Das Ergebnis ist ein vorurteilsbehaftetes Werk, mehr Fiktion als Fakt." Die Glaubensgemeinschaft ist als äußerst klagefreudig bekannt. In Großbritannien wird das Buch zur Vermeidung von Rechtsstreitigkeiten nicht erscheinen, auch in Kanada wird ein Erscheinen derzeit noch geprüft. In Deutschland soll es Anfang September bei der DVA veröffentlicht werden, wie der Random-House-Verlag auf Anfrage bestätigte.
Warum Berühmtheiten wie Cruise sich trotz aller öffentlicher Kritik an Scientology und persönlichen Anfeindungen noch immer so stark mit der Organisation identifizieren, darauf hat allerdings auch Wright keine befriedigende Antwort. Jenna Miscaviges Vermutung dazu: "Entweder er weiß nicht, was sich abspielt oder er ignoriert es bewusst. Die Insider, die wissen, was los ist, tragen eine Verantwortung, dem entgegenzutreten." Vielleicht verhält es sich mit Cruise und anderen auch ähnlich wie bei Paul Haggis, der von sich selbst sagt: Obwohl er eigentlich eine neugierige Person sei, habe er "irgendwo zwischen Desinteresse, genauer hinzuschauen und Angst, genauer hinzuschauen" geschwankt.
Es scheint, als würde Amerika jetzt anfangen, genauer hinzuschauen. Und so den Mythos Scientology zunehmend zu entzaubern.
Anmerkung der Redaktion:
In einer früheren Version des Artikels hieß es: "Die Sekte geht auch per Rechtsweg gegen die Veröffentlichung vor - die Glaubensgemeinschaft ist als äußerst klagefreudig bekannt. Mit erstem Erfolg: In Großbritannien und Kanada wird das Buch nicht erscheinen." Diese Stelle haben wir nun präzisiert.