Sehnsucht nach Marx:Gemeinsam gegen die Mächtigen? Träumt weiter!

Sehnsucht nach Marx: Auf Marx können sich alle einigen, die mit dem Turbokapitalismus hadern.

Auf Marx können sich alle einigen, die mit dem Turbokapitalismus hadern.

(Foto: Stefanie Preuin (M))

Spätestens seit der Finanzkrise ist Karl Marx so beliebt wie noch nie. Auf einmal finden ihn alle toll - auch die Reichen. Warum es in Europa trotzdem nicht zur Revolution kommen wird.

Essay von Christian Gschwendtner

Es muss so ungefähr nach dem ersten Rettungspaket für Griechenland gewesen sein. Da fingen die neuen Marx-Leser an, "das Kapital" spazieren zu tragen. Zum Beispiel im Innenhof der Pariser Universität. Man sah sie mit 700 Seiten unterm Arm durch die Gegend laufen, aber völlig unbeschwert. Wenn sie sich auf eine Bank hockten, lag das Buch immer daneben. Ganz oben auf dem Stapel. Auch in der Mensa hatten sie das Buch dabei. Es war plötzlich ein Accessoire - fast so angesagt wie Longchamp-Taschen.

Das war überraschend, denn in den Seminaren gab es bisher nur die Einzelgänger-Marxisten. Sie lungerten schlaff in der letzten Reihe rum, tranken kalten Kaffee und redeten ohne Pause vom "Verblendungszusammenhang" - egal, was gerade das Thema war. Die Einzelgänger-Marxisten gingen allen unfassbar auf die Nerven. Aber die neuen Marx-Leser waren ganz anders, nicht so schlecht gelaunt. Sie grüßten auf dem Flur. Sie luden ständig zu irgendwelchen "Aktionen" ein. Es hieß dann immer: "Marx ist so aktuell wie nie." Und: "Wir müssen dringend was zusammen starten." Mit Betonung auf zusammen. Das machte einen gleich misstrauisch.

150 Jahre "Das Kapital"

Vor 150 Jahren hat Karl Marx "Das Kapital" geschrieben. Seither beriefen sich Revolutionäre wie Tyrannen auf ihn. Heute zitieren ihn sogar die Reichen. Was macht das Werk des Philosophen so aktuell? Lesen Sie hier alle Texte aus dem Dossier der SZ-Volontäre.

Kein klassischer Denker hat so von der Finanzkrise profitiert wie Karl Marx. Bereits vor 150 Jahren analysierte er die Zerstörungskraft des Kapitalismus, und plötzlich schien ausgerechnet die verstiegenste seiner Ideen, das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, der Wirklichkeit sehr nahe zu kommen. Es besagt, dass sich der Kapitalismus über kurz oder lang selbst abschafft, weil er die eigenen Renditeziele nicht einhalten kann. Und weil immer mehr Geld in immer sinnlosere Spekulationen gesteckt wird. Eine Beschreibung, der sich nach dem großen Crash viele anschließen konnten: Kardinäle, Intellektuelle, Wirtschaftsliberale, Talkshow-Matadoren - alle zitierten wieder Karl Marx, als sei der Sozialismus zurück. Das war erstaunlich. Meinten die das ernst? Im Ohr hatte man ja noch die Aussage eines Investmentbankers der Deutschen Bank, der mal, eher so im Vorbeigehen, gesagt haben soll: "Wer mit 40 keine 100 Millionen auf dem Konto hat, ist ein Versager." Das knallte.

Es fing schon damit an, dass die Zuschauer der ZDF-Show "Unsere Besten - Wer ist der größte Deutsche" Karl Marx 2003 unter die Top Ten wählten. Er landete auf Platz drei. Hinter Adenauer und Luther, vor Bach und Goethe. Da merkte man, dass etwas faul sein musste. Hatte Marx nicht 1867 über "das Kapital" geschrieben, sein Werk sei das furchtbarste Geschoss, "das den Bürgern (Grundeigentümer eingeschlossen) noch an den Kopf geschleudert worden ist." Und jetzt himmeln ihn genau diese Bürger an? Ernsthaft?

Noch seltsamer wurde es, als das Chaos auf dem amerikanischen Häusermarkt ausbrach. Der Zeit, in der Sahra Wagenknecht zur Talkshow-Königin aufstieg. Kapitalismuskritik gehörte auf einmal zum guten Ton. Selbst das Zentralorgan des wirtschaftlich gesunden Menschenverstandes, die FAZ, ließ fragen, ob Karl Marx nicht doch recht gehabt haben könnte. Und Wagenknecht sprach nun öfters vor der besseren Gesellschaft. Einmal sogar im Ritz-Carlton in Wolfsburg. Auf Einladung des VW-Konzerns. Nicht unbedingt der Ort, "an dem man Kapitalismuskritik erwartet", schrieb eine Nachrichtenagentur.

Der Name Karl Marx ist inzwischen so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich alle einigen können, die mit dem Turbokapitalismus hadern. Auch die Bessergestellten, obwohl die sich in Wahrheit nur nach dem Rheinischen Kapitalismus der alten BRD zurücksehnen. Als die Wirtschaft noch gebändigt und anständig war und die dicken Firmenbosse Zigarre rauchten. So weit ist es gekommen.

Die Leute mögen es, wenn Wagenknecht die Exzesse des freien Marktes geißelt. Nur was danach kommen soll, das mögen sie nicht. Genauso ist das bei Karl Marx, dem Original. So gut wie niemand will eine Revolution. Vermutlich nicht einmal die Demonstranten, die in Hamburg erst gegen den G-20-Gipfel demonstrieren, sich hinterher aber bei Starbucks ins kostenlose Wlan einloggen.

Die Menschen schätzen Marx heute wegen seiner Analyse einer immer komplexer werdenden Wirtschaftsrealität. In der Marx'schen Geschichtstheologie ist ja alles von vornherein klar. Es gibt die Arbeiter, die nur ihre Arbeitskraft besitzen und deshalb ausgebeutet werden. Und es gibt die Kapitalisten, die über die Produktionsmittel verfügen und deshalb bestimmen, wo es langgeht. Und am Ende kracht es. Die Arbeiterklasse verbündet sich gegen "die da oben" und jagt sie vom Hof. Die Rollen jedenfalls sind klar verteilt, das gefällt den Menschen. Der Name Marx steht für Übersichtlichkeit in einer unübersichtlich gewordenen Welt.

Das Problem ist nur: Die moderne Arbeitswelt ist bei Weitem nicht mehr so übersichtlich wie von Marx gedacht. Es stimmt zwar, die Zahl der lohnabhängigen Menschen ist so groß wie nie zuvor. Gleichzeitig gibt es in den klassischen Industrieländern aber immer weniger Arbeiter im engeren Sinne - und immer mehr Projektangestellte, Leiharbeiter, Dienstleister. Es gibt Arbeiter, die so gut verdienen, dass sie überhaupt kein Interesse mehr am Klassenkampf haben. Zum Beispiel der Mechatronik-Meister bei BMW. Schon mal probiert, so jemanden von den Vorteilen des Sozialismus zu überzeugen?

Wer heute Marx liest, der träumt von einer Welt, die es so nicht mehr gibt

"Wir sind die 99 Prozent", schrien die Occupy-Demonstranten im New Yorker Zuccotti Park. Besser hätte es wohl heißen müssen: Wir sind Burger-Brater, Verkäufer, Industriearbeiter, Hochschulabgänger, und außer dem Überdruss am Kapitalismus haben wir wenig gemeinsam. Überhaupt: Es ist noch nicht mal klar, ob es die materielle Not ist, die aus ihnen herausschreit, oder eher ein Bedürfnis nach Anerkennung und Wertschätzung. Viele treibt lediglich die Befürchtung, dass alles irgendwie schlechter wird. Eine irrationale Angst vor dem sozialen Abstieg. Denn zumindest in Deutschland ist man noch ein Stückchen von der Verelendung der Massen entfernt, die Marx allen modernen Industriegesellschaften vorausgesagt hatte.

Trotzdem: Der Kapitalismus produziert seine Krisen in immer kürzeren Abständen. Schuldenkrise, Euro-Krise, Klimawandel - der Einzelne fühlt sich oft machtlos. So wie der Hacker Elliot Alderson in der amerikanischen Serie "Mr. Robot". Ein typischer Repräsentant der Occupy-Generation: Tagsüber arbeitet er für eine IT-Sicherheitsfirma. Nachts träumt er von einer neuen Bewegung, die sich mit den Mächtigen der Welt anlegt, "den Jungs, die ohne Erlaubnis Gott spielen". Mag radikal klingen, aber diese Sehnsucht, sich zusammenzuschließen ist sehr real.

Vor allem die Generation der Millennials denkt nicht mehr automatisch an die Sowjetunion, wenn sie den Namen Marx hört, die Lehman-Pleite ist ihr näher. Sie denkt an ein progressives Kollektiv. Das haben besonders die britischen Parlamentswahlen gezeigt.

Es gibt da zum Beispiel Jeremy Corbyn, den Chef der britischen Labour-Partei, der mit dem Slogan "For the many, not the few" antrat, für die Mehrheit, nicht die Minderheit - und damit zum heimlichen Wahlsieger wurde. Für seine Anhänger klang der Spruch wie eine Verheißung, sie konnten sich plötzlich als Teil von etwas Größerem fühlen. Vor allem die Jungwähler versammelten sich hinter Corbyn. Dass er den kubanischen Diktator Fidel Castro mal als "Champion der sozialen Gerechtigkeit" gelobt hatte? Nicht mehr so wichtig.

Im Wahlkampf legte Corbyn sogar noch mal nach. Er nannte Karl Marx "einen großen Ökonomen" - was für viele Konservative in Großbritannien immer noch einer Kriegserklärung gleichkommt. Der Daily Telegraph beschimpfte ihn umgehend als "Marx Brother", nur um so die alte Schreckgestalt des Kommunismus an die Wand malen zu können. Aber die Kampagne verfing nicht. Wenn sich fast alle auf Marx beziehen, kann man auch keinen mehr mit ihm erschrecken. Nur: Reicht das allgemeine Marx-Fieber schon, um ein neues Klassenbewusstsein zu schaffen?

Der Philosoph Richard Rorty sagt, für echte Solidarität zwischen Menschen braucht es ein "Wir-Gefühl". Einfach nur ein Feindbild heraufzuschwören, hinter dem sich alle versammeln können, das ist auf Dauer zu wenig. Politiker wie Bernie Sanders in den USA und eben Jeremy Corbyn in Großbritannien scheinen das erkannt zu haben. Sie wollen nicht mehr nur gegen die "1 Prozent" an der Spitze kämpfen. Sondern für konkrete Anliegen: die Abschaffung der Studiengebühren, mehr Sozialwohnungen, ein funktionierendes Gesundheitssystem. Aber ob es ihnen damit gelingt, aus einer Klasse von Individualisten eine neue Gemeinschaft zu formen?

In der modernen Arbeitswelt hat der Konkurrenzdruck ja eher noch zugenommen. Vor allem unter jungen Leuten, sagt der Wirtschaftssoziologe Oliver Nachtwey. Sie haben das Gefühl, ein guter Abschluss reiche nicht mehr, um im Beruf Erfolg zu haben. Deshalb wird mit härteren Bandagen gekämpft, gerade auch untereinander. Man muss sich dafür nur mal die LinkedIn-Profile anschauen: Da wird heute alles aufgefahren, was nur den kleinsten Distinktionsvorteil verspricht, Ehrenämter, Projekte, Preise, alles. Jeder, der dort auftritt, ist als Verkäufer in eigener Sache unterwegs.

Das Problem ist eben: Alle sind in ihrer eigenen Realität unterwegs. Oder was verbindet den Leiharbeiter noch mit dem nicht verbeamteten Lehrer, der sich im Sommer arbeitslos melden muss? Nicht viel, von dem befristeten Jobstatus und dem überschaubaren Gehalt mal abgesehen. Wer heute Marx liest und von einem Kampf zwischen Arbeiter und Kapitalisten träumt, der träumt von einer Welt, die es so nicht mehr gibt. Und die so auch nicht mehr zurückkommen wird. Karl Marx ist nur noch ein Symbol für diffuse Kapitalismuskritik. Ihn selbst hätte das vermutlich am meisten geärgert, lebte er noch. Höchstwahrscheinlich würde Marx sogar allen, die es ehrlich mit ihm meinen, einen Rat mit auf dem Weg geben: Zitiert "das Kapital" bloß nicht mehr! Finger weg davon!

Will man sich wirklich mit Leuten verbrüdern, die im Ritz-Carlton Champagner trinken und beim Namen Marx laut Bravo rufen wie die älteren Herrschaften bei jenem VW-Event im Februar 2015? Die laut den Kapitalismus geißeln, ihn heimlich, still und leise aber seit Jahrzehnten leben? Diese Leute hätten definitiv weniger Marx lesen sollen. Sie hätten besser mal ihr Veto eingelegt, als VW seinem CEO und Edelmieter für 60 000 Euro eine Gartenteich-Heizanlage spendierte. Weil die Koi-Karpfen des Herrn Winterkorn doch so empfindlich auf Temperaturstürze reagieren.

Übrigens: Hinter der Pariser Uni gab es das "Le Basil", eine Bar, in der wir nach den Kursen oft ein paar Drinks nahmen; mit dabei waren zwei bis drei Sprösslinge aus der Pariser Oberschicht, die immer feine Jacketts in den Vorlesungen trugen. Wir nannten sie heimlich die "Prada-Meinhof-Bande". Sie waren sehr reich, fanden gleichzeitig aber Thomas Piketty unglaublich gut. Jenen Piketty, der 2014 eine Statistik über die wachsende Ungleichheit in einen globalen Bestseller verpackte, sich aber nicht als Marxist bezeichnet. Das ärgerte die Prada-Meinhof-Bande immer ein wenig, aber nie lange. Als die Happy-Hour vorbei war und wir anderen heimgehen wollten, zückte einer oft ein paar Geldscheine und rief: "Freunde, ab jetzt unbegrenzte Ressourcen." Das war das Signal zum Aufbruch - in die nächste Bar.

150 Jahre "Das Kapital"

Vor 150 Jahren hat Karl Marx "Das Kapital" geschrieben. Seither beriefen sich Revolutionäre wie Tyrannen auf ihn. Heute zitieren ihn sogar die Reichen. Was macht das Werk des Philosophen so aktuell? Lesen Sie hier alle Texte aus dem Dossier der SZ-Volontäre.

  • Der Preis der Freiheit

    56 Erwachsene üben Sozialismus: In der Kommune Niederkaufungen gibt es eine Kasse für alle. Jeder gibt, was er kann, und nimmt, so viel er braucht. Am Ende soll's für jeden reichen. Geht die Rechnung auf?

  • The City of London viewed across the River Thames from City Hall. PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xIanxGood/LOOPxIMAGESx IGD1431603    The City of London viewed across The River Thames from City Hall PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright xI Was kostet die Welt?

    Zwei Männer in London, die aus ähnlichen Verhältnissen kommen: Der eine glaubt an die Revolution, der andere hat seine eigene Firma gegründet und verdient Millionen. Was sie verbindet: Beide wollen die Welt verbessern.

  • "Wir leben in Ländern, die vor akkumuliertem Reichtum stinken"

    Der Historiker und Publizist Gerd Koenen war begeisterter Kommunist - bis er damit brach. Ein Gespräch über seine 68er-Zeit, den Wandel einer Ideologie und die Aktualität von Karl Marx.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: