Bei Scientology ist seit ein paar Tagen die Hölle los. Ein bekennendes Mitglied namens Debbie Cook hat in einer E-Mail an Tausende andere Scientologen scharfe Kritik am Sektenboss David Miscavige und dessen angeblich verschwenderischem Umgang mit Spendengeldern geübt. Solche Töne kannte man bisher nur von Aussteigern, nicht aus dem Inneren der Organisation. Ein Einzelfall? Keineswegs, sagt Michael Rinder. Es gibt wenige Leute, die die Sekte so gut kennen wie der 56-jährige Australier. Rinder wuchs schon in einer Scientologen-Familie auf. Er war Sprecher und mehr als 20 Jahre lang Chef des Office of Special Affairs , des berüchtigten Geheimdienstes von Scientology. 2007 stieg er aus - weil er, wie er sagt, nicht mehr mit den totalitären Methoden des Sektenführers zurechtkam. In seinem ersten Interview, das in Deutschland erscheint, erklärt er, weshalb eine offene Revolte bei Scientology seiner Meinung nach nur noch eine Frage der Zeit ist.
SZ: Steckt die Church of Scientology in der Krise, Mister Rinder?
Michael Rinder: Allerdings. Und wenn Sie wissen wollen, warum, müssen Sie wissen, wer Debbie Cook ist. Sie hat diese kritische E-Mail geschrieben - und sie gehörte bei Scientology zur Sea Organisation ( Anm. d. Red.: So heißt die Elite-Einheit der Sekte; ihre Mitglieder tragen militärisch anmutende Uniformen und reden Vorgesetzte mit "Sir" an). Anders als Leute wie ich war Debbie bis zuletzt ein ordentliches Mitglied der Kirche. Sie war beliebt, sie hat jede Menge Respekt genossen. Das heißt, dass die meisten Mitglieder ihre Mail auch gelesen haben werden. Und das, was Debbie geschrieben hat, spricht Scientologen an: Sie zitiert die Regeln von L. Ron Hubbard ( Anm. d. Red.: den 1986 verstorbenen und bis heute von den Mitgliedern glühend verehrten Sektengründer). Und sie stellt fest, dass sehr vieles von dem, was die Kirchenführung heute treibt, in krassem Widerspruch dazu steht.
SZ: Laut Scientology vertritt Debbie Cook eine Einzelmeinung, die von einem "kleinen, ignoranten und unaufgeklärten Blick auf die heutige Welt" zeuge.
Rinder: Das ist eine lahme PR-Antwort. Der Versuch einer Schadensbegrenzung, mehr nicht.
SZ: Und wie groß ist der Schaden?
Rinder: Erheblich. Das zeigen auch die Reaktionen, die auf das erste Statement gefolgt sind. Debbie wird inzwischen sogar als Apostatin bezeichnet. Das mag in Ihren Ohren bizarr klingen, aber es ist eine Botschaft, die vor allem an die Mitglieder gerichtet ist: Debbie ist eine Abgefallene, glaubt ihr kein Wort mehr!
SZ: Was meinen Sie, wie viele Mitglieder Cooks Kritik insgeheim teilen?
Rinder: Die Mehrheit.
SZ: Ernsthaft?
Rinder: Ja. Wenn die Gemeindemitglieder offen mit Ihnen reden würden, könnte Ihnen jeder eine Geschichte über die "vulture culture" erzählen.
SZ: Vulture culture?
Rinder: Der Geist der Aasgeier. Die Obsession, so viel Geld wie möglich aus den Leuten herauszupressen. Dieses Denken hat die ganze Organisation durchdrungen. Und wenn Debbie den Finger in die Wunde steckt, weiß jeder Scientologe, was gemeint ist.
SZ: Warum gibt es dann nicht Tausende solcher Protest-Mails?
Rinder: Die Leute haben Angst, vor allem vor den Medien. Debbie hatte ja auch nicht vor, dass ihre Mail bekannt wird.
SZ: Wissen Sie, was jetzt mit ihr geschieht?
Rinder: Wir haben keinen Kontakt.
SZ: Aber wenn jemand weiß, wie Scientology mit einem Kritiker umgeht, dann Sie.
Rinder: Das stimmt. Ich habe sogar eine recht präzise Vorstellung davon, was gerade läuft. Zuerst wird die Facebook-Polizei aktiviert. Die informiert alle Mitglieder, dass Debbie niemandes "Freund" mehr sein darf. Dann wird ihr das Label "unterdrückerische Person" verpasst - Kontaktsperre. Und später werden Sie immer mehr Versuche beobachten können, die Frau als Lügnerin darzustellen. Als jemand, der keine Ahnung hat. Als frustriertes Ex-Mitglied, das alte Rechnungen begleichen will. Das ist die Standardprozedur.
SZ: Und das funktioniert?
Rinder: Nicht mehr so wie früher. Sehr viele Mitarbeiter von Scientology leben völlig isoliert. Die lesen keine Presse, die schotten sich völlig ab von allem, was kritisch sein könnte. Was sich aber ändert, ist die Einstellung der normalen Gemeindemitglieder - und über sie erreicht die Kritik auch die Mitarbeiter. Für jedes Mitglied, das Fragen stellt, brauchen sie jemanden, der es bearbeitet. Jeder, der das tut, wird mit der Kritik konfrontiert - und wenn sich das wiederholt, fängt er irgendwann selbst an, Fragen zu stellen. Das ist ja das Schöne an der Kritik von Debbie Cook. Kurzfristig produziert sie nur ein Medienecho. Aber langfristig sind die Folgen enorm. Der Zweifel ist gesät. Er wird Früchte tragen.
SZ: Reden wir über David Miscavige, den Chef von Scientology und besten Kumpel von Tom Cruise. Erleben wir den Anfang vom Ende seiner Herrschaft?
Rinder: Nein, der liegt schon weiter zurück. Aber das, was nun passiert, wird seinen Niedergang beschleunigen. Seine Macht hängt davon ab, dass die Leute auf ihn hören. Dass sie ihm glauben, dass er Scientology ins gelobte Land führt. Wenn dieses Image wackelt, wackelt die ganze Struktur der Kirche. Die ist ja völlig auf ihn ausgerichtet. Niemand kann dort irgendetwas tun oder entscheiden, ohne dass Miscavige zustimmt.
SZ: Ein Diktator?
Rinder: Absolut.
SZ: Wie gut kennen Sie ihn?
Rinder: Oh, ich kenne David Miscavige. Wir haben sehr lange und sehr eng zusammengearbeitet.
SZ: Was ist das für ein Mensch, im Guten wie im Schlechten?
Rinder: Das Schlechte überwiegt eindeutig. Aber gut. . . Er lernt extrem schnell, er ist sehr intelligent. Es gibt fast nichts, was er intellektuell nicht verarbeiten kann. Aber er nutzt seine Intelligenz, um zu manipulieren. Er ist unfassbar eitel und sehr nachtragend. Wenn du etwas in Frage stellt, was er sagt, dann wird er dir eine Lehre erteilen. Er lässt die Leute um sich nie zur Ruhe kommen. Seine Strafen sind oft willkürlich. Du weißt nie, wann du das Klo schrubben musst oder von ihm eine gescheuert bekommst.
SZ: Er hat Sie geschlagen?
Rinder: Vielleicht 50 Mal. Er hat mich geschlagen. Er hat mich Klos putzen lassen. Ich musste auf dem nackten Fußboden schlafen. Ich kam ins Loch. Sowas.
SZ: Haben Sie sich gewehrt?
Rinder: Ich habe mir nur die Arme vors Gesicht gehalten. Ich war ja nicht der Einzige. Es gibt viele Berichte über seine Übergriffe.
SZ: Sie sollen auch zugelangt haben.
Rinder: Ja. David Miscavige hat zu mir und anderen gesagt: Du gehst jetzt zu Soundso und schlägst ihn. Und wenn du das nicht tust, werde ich es tun und dir hinterher auch noch eine verpassen.
SZ: Scientology weist das, was Sie sagen, zurück. Ihre eigene Ehefrau hat sie bei CNN als Lügner bezeichnet.
Rinder: Menschen wie meine Frau erzählen aus Angst alles. Die marschieren los wie gute kleine Roboter und sagen das, was David Miscavige diktiert hat. Bei CNN saßen ja mehrere Ehefrauen von Aussteigern. Zwei haben sogar die exakt gleichen Formulierungen benutzt.
SZ: Es heißt auch, dass Miscavige einen Hund hat, der Uniform trägt und vor dem die Mitglieder salutieren müssen?
Rinder: Korrekt. Die Uniform ist blau, und vorne sind goldene Streifen drauf.
SZ: Sie bezeichnen sich als "unabhängigen Scientologen". Was heißt das?
Rinder: Ich glaube, dass unsere Philosophie Menschen helfen kann, ein besseres Leben zu führen. Die Organisation benutzt dieses Wissen allerdings, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen.
SZ: Sie selbst wollen keine Kritiker vernichten und die Welt erobern?
Rinder: Nein. Und ich weiß, dass das vor allem in Deutschland ein Riesenthema ist. Diese Arroganz: Wir sind überlegen, wir allein kennen den Weg zum Glück. David Miscavige ist dafür verantwortlich, dass Scientology und seine Mitglieder als radikal gelten - und zwar im Sinne von: verrückte Dschihadisten. Dieses Image entspricht zwar nicht der Wahrheit, aber es wird immer wieder verstärkt, wenn die Kirche gegen Kritiker und Journalisten wie Sie vorgeht und sie wie Dreck behandelt.
SZ: Sie meinen die berüchtigte "Freiwild"-Regel - den gnadenlosen Umgang mit Kritikern. Das ist längst nicht der einzige Grundsatz, dem Scientology den miesen Ruf verdankt. Solche Regeln gab es schon immer. Sie sind die Erfindung des Gründers L. Ron Hubbard.
Rinder: Puh. Das könnte eine lange Diskussion werden. Also: Ich kann nachvollziehen, dass Sie das so sehen. Die "Freiwild"-Regel hätte so nie geschrieben werden dürfen, und sie wurde böse misinterpretiert. Das gleiche gilt für die "Disconnection"-Regel. . .
SZ: . . . die Pflicht, den Kontakt zu Leuten abzubrechen, die in den Augen von Scientology "Unterdrücker" sind.
Rinder: Genau. Wenn Sie alles lesen, was Hubbard darüber geschrieben hat, dann werden Sie sehen, dass es als allerletzter Ausweg gedacht war. Disconnection soll jemandem erlauben, glücklich zu sein. Wenn Sie in einer Beziehung sind, in der Sie missbraucht werden, dann ist es am besten, den Kontakt zu kappen. So war es gemeint. Als Hilfsmittel für den Einzelnen, nicht als politisches Kontrollinstrument, das es der Kirche erlaubt zu sagen: Du darfst diese oder jene Person nicht mehr sehen.
SZ: Wenn man Ihnen zuhört, klingt es so, als wäre Hubbard harmlos gewesen. Ronald DeWolf, der 1991 verstorbene älteste Sohn des Scientology-Gründers, beschrieb seinen Vater in einem Interview als sadistischen, gewalttätigen und paranoiden Okkultisten, der entgegen seiner eigenen Reinheitslehre wie verrückt gesoffen und Drogen genommen habe.
Rinder: Erstens weiß ich, dass Nibs ( Anm. d. Red.: DeWolfs Spitzname) diese Aussage später zurückgenommen hat. Und zweitens habe ich selbst viel Zeit mit Hubbard verbracht, so viel wie wenige andere. Er war der brillanteste Mensch, den ich je kennenlernen durfte. Ja, er hatte seine Launen und konnte wütend werden, wenn etwas schief lief. Aber war das immer so? Nein. Hat er Menschen so behandelt wie Miscavige? Kein bisschen. Hat er sich um seine Familie gekümmert? Absolut. Hat er Drogen genommen? Absolut nicht. War er höflich? Unglaublich. War er witzig? Sehr sogar.
SZ: Das klingt alles ganz toll. Aber es war Hubbard, der diese knallharte Unterscheidung zwischen den angeblich geistbefreiten Scientologen und dem Rest gemacht hat, den "Wogs", dem "rohen Fleisch", den "Unterdrückern". Dieses Weltbild: schwarz und weiß, Freund und Feind, das ist Hubbard in Reinform. Und Sie erleben es seit Ihrem Ausstieg doch selbst, Mister Rinder. Sie sind jetzt einer der Bösen. Sogar Ihre Familie hat Ihnen den Krieg erklärt. Wie kriegen Sie das unter einen Hut?
Rinder: Indem ich diese Art der Kirche zu denken aus meinem Leben verdränge. Ich sehe es doch wie Sie. Diese Haltung, dass wir gegen den Rest der Welt kämpfen und jeden Kritiker wie einen Feind behandeln müssen, ist falsch. Vielleicht finden Sie einzelne Stellen bei Hubbard, mit deren Hilfe Sie mir nachweisen können, dass wir nicht übereinstimmen. Na und? Dafür gibt es viele Passagen, die etwas ganz anderes aussagen. Ich bin nicht der Vollzeit-Hubbard-Erklärer, der sich bei jedem Satz überlegt, wie er ihn verteidigen kann. Ich will nur, dass die Misshandlungen, die heute in der Kirche an der Tagesordnung stehen, aufhören.
SZ: Ihre Frau bezeichnet Sie als Mensch, der Kinder hasst, Ihre Tochter beschimpft sie als Bigamist. Schmerzt Sie das?
Rinder: Natürlich schmerzt das. Aber ich muss mich schützen. Ich weiß ja, warum sie das tun. Sie denken, sie hätten keine Wahl. Meine Güte, die haben sogar meine 86-jährige Mutter in einem Seniorenheim besucht und dazu gebracht, mir böse Briefe zu schreiben. Ich weiß aber, wer ich bin. Ich weiß, wie ich lebe. Ich habe jetzt einen fünf Jahre alten Stiefsohn, den ich furchtbar liebhabe. Wir verstehen uns wunderbar. Wenn ich wirklich so ein Unhold wäre, warum war Cathy dann 30 Jahre lang mit mir verheiratet? Wissen Sie, ich lese all den Dreck, den die über mir auskippen, gar nicht mehr.
SZ: Gibt es in Ihren Augen eine Chance, dass Sie und Ihre Familie irgendwann Frieden schließen?
Rinder: Nur wenn sie aufwachen. Nur wenn sie erkennen, dass sie einer Gehirnwäsche unterzogen wurden.
SZ: Wenn Sie all Ihre Erfahrungen zusammennehmen, als was sehen Sie sich dann: als Täter oder Opfer?
Rinder: Ich bin kein Opfer. Ich ernte nur einen Teil dessen, was ich selbst gesät habe. Und deshalb will ich meinen Teil dazu beitragen, den Missbrauch dieser Organisation zu beenden.
SZ: Es gibt wenige Länder, in denen die Church of Scientology so kritisch behandelt wird wie in Deutschland: als gefährlicher Kult, der Menschen finanziell ruiniert, keine Meinungsfreiheit kennt und Kritiker und Aussteiger rücksichtslos attackiert. Kurz: als Gefahr. Können Sie diese Kritik nachvollziehen?
Rinder: Klar. Allerdings plädiere ich dafür zu unterscheiden. Die Organisation und ihr Führungspersonal sind das Problem, nicht das einfache Mitglied. Das soll denken und glauben dürfen, was es will, ohne gebrandmarkt zu werden. In vielen Fällen sind das ja dieselben Leute, die von der Kirche missbraucht werden, indem sie ihnen das Geld aus der Tasche zieht und mit der Androhung einer Disconnection kontrolliert.
SZ: Auch für Letzteres interessiert sich der deutsche Verfassungsschutz.
Rinder: Und das zu Recht.