Schule in Chile:Eine Klasse für sich

Eigentlich ist Ulises, 8, ein ganz normales Schulkind. Mit Mathetests, Lehrer und großer Pause. Und doch ist etwas ganz anders: Er ist das einzige Kind an seiner Schule.

Von Matthias Lauerer

Ulises Muñoz ist alles in einem: Schul- und Klassensprecher, Streber und Klassenclown, Herr über die Spielzeugeisenbahn, die Tischtennisplatte und die Bibliothek. Es ist neun Uhr morgens, als der Junge auf das Holzhaus der "Escuela G-701" in Piedras Blancas zusteuert. Die letzten Nebelwolken hängen noch in den umliegenden Bergen fest, der Blick auf den Osorno-Vulkan mit seiner schneeweißen Spitze ist verhangen. Aber Ulises hätte ohnehin keine Zeit für den atemberaubenden Ausblick - er ist spät dran. Pünktlich um neun beginnt für ihn der Unterricht. In einem Klassenzimmer mit sieben Stühlen, einem Holzofen und vier Neonröhren, die von der Decke strahlen. In den Regalen stapeln sich Hefte und Bücher, an den Wänden hängen geometrische Figuren, Kunstwerke der Kinder, Buchstaben und ein buntes Skelett. Ein ganz normales Klassenzimmer eben. Nur: Bis auf Ulises und seinen Lehrer Carlos Neira ist niemand da.

Schule in Chile: Ulises auf dem Weg zur Schule. Weil es in der Gegen wilde Pumas gibt, geht er nie allein.

Ulises auf dem Weg zur Schule. Weil es in der Gegen wilde Pumas gibt, geht er nie allein.

(Foto: Matthias Lauerer)

In Chile ist das gar nicht mal so ungewöhnlich. Im Land gibt es 74 weitere Klassen wie die von Ulises - mit nur einem Lehrer und einem Schüler. Das liegt daran, dass viele Orte sehr abgelegen in den Bergen liegen. "Escuela G-701" zum Beispiel in der Kommune Toltén, Region Araukanien, inmitten von Hügeln und Wiesen auf einem Bergkamm. Rundherum gibt es weder Häuser noch Fabriken, im Winter passiert fünf Monate lang nichts. Internet und Telefonleitungen gibt es nicht, der Handyempfang ist lausig.

Schule in Chile: Abschreiben unmöglich. Von wem auch? Neben seinem Lehrer Carlos Neira ist niemand im Klassenzimmer von Ulises.

Abschreiben unmöglich. Von wem auch? Neben seinem Lehrer Carlos Neira ist niemand im Klassenzimmer von Ulises.

(Foto: Matthias Lauerer)

Dass es überhaupt Schulen für die wenigen Kinder in solchen Orten gibt, liegt an einem Programm namens "Piso rural", was übersetzt "ländlicher Boden" bedeutet. Der Präsident, der das eingeführt hat, ist schon lange nicht mehr im Amt, aber die Schulen bekommen immer noch Geld aus dem Programm.

Für Ulises beginnt der Tag heute mit einem Handschlag und einer Stunde Mathe. Der Schultag dauert bis 16.30 Uhr, nur freitags ist schon um 15 Uhr Schluss. Drei Pausen unterbrechen die Stunden - und an diesem Tag auch noch ein kleiner Kolibri, der sich im Klassenzimmer verfliegt. Erst nach zehn Minuten gelingt es den beiden, den winzigen Vogel wieder in die Freiheit zu befördern. Danach geht es weiter: Auf dem Stundenplan stehen neben Mathe noch Spanisch, Naturwissenschaften, Geschichte, Geografie, Englisch und Technologie. Vormittags wird Theorie gepaukt, nachmittags alles ausprobiert. Dann gibt es Workshops zu Kino, Theater und Naturwissenschaften, bei schönem Wetter auch draußen.

Schule in Chile: An den Wänden im Klassenzimmer haben viele Schüler ihre Spuren hinterlassen. Jetzt ist Ulises allein mit dem Lehrer.

An den Wänden im Klassenzimmer haben viele Schüler ihre Spuren hinterlassen. Jetzt ist Ulises allein mit dem Lehrer.

(Foto: Matthias Lauerer)

Ulises braucht zu Fuß etwa eine halbe Stunde zur Schule. Früher war er allein unterwegs, doch seit ein paar Monaten begleiten ihn seine Mama und Carlos im Wechsel. Grund dafür: "Früher gab es hier keine Pumas, doch nun gibt es eine ganze Menge", erzählt Carlos später. Die Tiere, in Südamerika auch "Berglöwen" genannt, sind eigentlich sehr scheu. Aber wirklich sicher kann man sich nie sein. Immerhin wiegen die Raubkatzen bis zu 80 Kilogramm und können aus dem Stand fünf Meter hoch springen.

Schule in Chile: Schön bunt: So sieht das Schulgebäude der Escuela G-701 von außen aus. Es gibt sogar eine Schulglocke.

Schön bunt: So sieht das Schulgebäude der Escuela G-701 von außen aus. Es gibt sogar eine Schulglocke.

(Foto: Matthias Lauerer)

Wenn die Schule vorbei ist, sitzt Ulises am liebsten am Küchentisch und spielt "Hungry Shark" auf einem Tablet. In der kleinen Stube ist es dunkel und es riecht nach Milch, vor der Tür bellen die Hunde Poquito und Jary, manchmal grunzen in der Ferne ein paar Schweine. Ulises' Mama ist Hausfrau, der Vater schlägt im Wald Holz. "Früher wohnten hier mehr Familien, aber es gibt kaum Arbeit und das Einkommen ist schlecht. Deswegen sind die anderen ins Tal gezogen", sagt seine Mutter. Bis vor einem Jahr war ihr Sohn nicht der einzige Schüler. Was sich Ulises wünscht? Er schaut von seinem Tablet auf und sagt: "Ich hätte gerne jemanden zum Spielen."

Schule in Chile: Heute Klimmzüge: Weil Ulises Lehrer nicht mehr so fit ist, übernimmt die Sportstunden ein jüngerer Lehrer.

Heute Klimmzüge: Weil Ulises Lehrer nicht mehr so fit ist, übernimmt die Sportstunden ein jüngerer Lehrer.

(Foto: Matthias Lauerer)

Morgen werden erst mal wieder sechs der sieben Stühle leer bleiben. In ein paar Jahren kommt Ulises auf die weiterführende Schule - mit jeder Menge Mitschülerinnen und Mitschülern.

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