Schokoladenkultur:Braunes Gold

Nach Jahrzehnten des Niedergangs lebt eine große Kultur wieder auf. Und bringt gewagte Kombinationen wie Schokolade mit Bier, Paprika oder Oliven zum Vorschein.

Gottfried Knapp

Handgeschöpfte Bitterschokolade mit Chili, Schafmilchschokolade mit Rosa Pfeffer, Kakaobohnensplitter mit Zitronenpfeffer - Aztekenfürst Moctezuma II. könnte ein bitteres Lachen wohl kaum unterdrücken, wenn er in diesen Vorweihnachtstagen in ein Delikatessengeschäft geraten und in der Schokoladenabteilung die zahllosen Neukreationen dunkler, bitterer Schokoladen mit aztekisch-pfeffrigen Würzungen entdecken würde.

Schokolade

Erst nach stundenlangem mechanischen Bewegen in der Conchiermaschine wird aus der zähen Kakaomasse die gussfähige Kuvertüre, die beim Erstarren schönste Formen annehmen kann.

(Foto: Foto: iStockphotos)

Denn fast 500 Jahre vorher, im unheiligen Jahr 1519, als der spanische Eroberer Hernán Cortéz mit ausschließlich bösen Absichten mexikanischen Boden betrat, hatte ihm Moctezuma, der letzte Azteken-Herrscher, jenen ölig-schweren schwarzbraunen Göttertrank kredenzt, der für Erwählte bestimmt war.

Doch der finstere Conquistador, der süßen Wein gewohnt war und eigentlich nur Gold sehen wollte, konnte dem bitteren, mit Chili und Kräutern scharf gewürzten Aufguss nichts abgewinnen. Vermutlich hat er die braunen Bohnen, aus denen die Azteken ihren Extrakt gewannen, nur deshalb nach Europa mitgenommen, weil in den Schatzkammern des Fürsten, wo er nach Gold gesucht hatte, diese Bohnen, die auch als Zahlungsmittel dienten, gleich tonnenweise herumlagen.

Schokolade aus der Apotheke

So kam also der Kakao als Ersatzbeutegut, als "Braunes Gold", nach Europa. Findige Leibköche haben dort die gemahlene Masse sofort mit allerlei mildernden, süßenden Stoffen wie Milch und Honig kombiniert und so zu jenem Luxus-Produkt verfeinert, das zunächst nur an Fürstenhöfen getrunken wurde. Als kräftigendes, stimulierendes, angeblich aphrodisierendes Heilmittel wurden die Samen des Kakaobaums dann irgendwann auch von Apothekern vertrieben.

Im 18. Jahrhundert - Liotards "Schokoladenmädchen" schwebt mit der fein bemalten Porzellantasse durch den Raum - frönte auch eine gehobene Bürgerschicht dem Kult des Schokoladeschlürfens. Doch seine eigentliche Karriere in Europa machte der Kakao erst im 19. Jahrhundert, als es den Chocolatiers gelang, den ölhaltigen rauen Stoff so makellos cremig zu zermalmen, dass er sich - wohltemperiert - in feste Formen gießen, also zu Tafeln und Blöcken verarbeiten und kalt und kauend genießen ließ.

Zurück in den Dschungel

Natürlich war es vor allem die gaumenschmeichlerische Symbiose mit Süßem, die den Siegeszug der Kolonialware Kakao möglich machte. Ja man kann die Vermählung der tropischen Bitterstoffe mit den süßen Extrakten des Zuckerrohrs als eine der ergiebigsten Eheschließungen im Reich des Geschmacks feiern. In Europa jedenfalls trat Schokolade von Anfang an so entschieden als Süßigkeit auf, dass eine Rückkehr zum beizend-bitteren Kultgetränk der Mayas und Azteken, zur wilden Ursprünglichkeit der Dschungelpflanze undenkbar schien.

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Braunes Gold

Doch nun kehren sie plötzlich in zahllosen Varianten in den Kanon der Gaumengenüsse zurück: die jahrhundertelang verschmähten wildherben Gewürzkombinationen der amerikanischen Ureinwohner. Seit in den Amazonas-Urwäldern Boliviens die bescheidene Urpflanze der Kakaofamilie mit ihren fruchtig schmeckenden winzigen Kernen wiederentdeckt worden ist, hat sich im Marktsegment Schokolade, das jahrzehntelang von den großen Lebensmittelkonzernen und ihren auf Mittelmaß heruntergedimmten Produkten beherrscht war, ein internationaler Qualitätswettbewerb entwickelt, der allenfalls mit den Bemühungen im Spitzensegment des Weinbaus verglichen werden kann.

weiße schokolade

Die monströseste geschmackliche Verirrung der Schokoladeindustrie: Weiße Schokolade ist seelenlos.

(Foto: Foto: iStockphotos)

Seit einigen Jahren experimentieren Geschmacksdesigner auf geradezu fundamentalistisch radikale Weise mit den kernigen Urstoffen der Kakaoproduktion und mit allem, was an Geschmacksverfremdern greifbar ist. Und plötzlich schießen überall in Europa Schokoladenmanufakturen aus dem Boden, die ausschließlich Kakao bestimmter Sorten, bestimmter Anbaugebiete und bestimmter Erntezeiten verwenden und ihre handgeschöpften Produkte zu abenteuerlichen Phantasiepreisen unters Volk bringen. Moctezuma kann angesichts dieser plötzlichen Euphorie nur schmunzeln: Das Geschenk, das sein Gott Quetzalcoatl der Menschheit vermacht hat, hat nach Jahrhunderten der Geringschätzung endlich wieder etwas von seiner alten mythischen Größe zurückgewonnen.

Schokolade als Heilmittel

Alexander von Humboldt hat das, was den Kakao vor anderen exotischen Produkten auszeichnet - und was die Schokoladeindustrie gründlich verdrängt hat - vor fast 200 Jahren schlüssig in Worte gefasst: "Kein zweites Mal hat die Natur eine solche Fülle der wertvollsten Nährstoffe auf einem so kleinen Raum zusammengedrängt wie gerade bei der Kakaobohne."

Zahlreiche medizinische Untersuchungen der jüngsten Zeit bestätigen Humboldts Vermutung auf fast schon hymnische Weise: Kakao kann, wenn er richtig eingesetzt wird, an vielen Stellen des Körpers kleine Wunder vollbringen: Er enthält Alkaloide, die das zentrale Nervensystem stimulieren und depressive Anwandlungen zurückdrängen. Er wirkt gesundheitsfördernd auf die Hautzellen, auf das Herz, die Gefäße und das Gehirn; auch den Cholesterinspiegel, den Stoffwechsel und den Blutdruck kann er wohltuend beeinflussen, wenn ihm die bitteren Aromastoffe, in denen die Antioxidantien, aber auch Magnesium, Zink, Eisen und andere Wirkstoffe enthalten sind, nicht entzogen wurden.

Doch von den heutigen Massenprodukten enthalten allenfalls die höherprozentigen Bitterschokoladen Reste dieser Stoffe. Die oft peinlich süßen Milchschokoladen aber oder gar die viel zu teuren holländischen Billig-Riegel haben von den gesunden Stoffen der Natur nichts zu bieten.

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Braunes Gold

Die monströseste geschmackliche Verirrung der Schokoladeindustrie ist aber das Unglücksprodukt Weiße Schokolade, das, nur weil es farblich einen aparten Gegensatz bildet, bis in höchste kulinarische Regionen hinaufgedrungen ist. Dabei wird jedes mit Geschmackspapillen gesegnete Lebewesen zugeben, dass das gelbweiße Zeug einfach nur fettig-süß und irgendwie infantil schmeckt - kandierte Muttermilch? -, aber keine Ähnlichkeit mehr mit Schokolade hat.

Tatsächlich sind all die wertvollen Geschmacksstoffe, deretwegen der Kakaobaum irgendwann vom Menschen entdeckt worden ist, hier restlos eliminiert. Nur die Kakaobutter, ein farbloses Öl, das bei der Herstellung von Kakaopulver unter höchstem Druck abgepresst wird, kommt dabei zum Einsatz. Das ist so, als würde man beim Wein sämtliche Geschmacks-, Geruchs- und Farbstoffe abpressen, um die total charakterlose, alkoholhaltige Rest-Flüssigkeit als illustre Weinkreation zu vermarkten.

Der neue Trend zu dunklen, gehaltvollen Schokoladen ist indirekt auch eine Antwort auf die vielen kastrierten, unnatürlich blassen Schokoladen, die sich in den Regalen der Kaufhäuser und in den Vitrinen der Schokoladenboutiquen stapeln. Die plötzliche Vielfalt, die sich im Dunkelsortiment auftut, ist überwältigend. Schon der erste Händler, den man im Internet anpeilt, hat rund 400 verschiedene Schokoladesorten anzubieten, dazu 43 Sorten Trinkschokolade und 14 Zubereitungen von gerösteten Kakaobohnen als edles Studentenfutter.

Die Kunst des Conchierens

Zu den neuen Kriterien für Qualität gehören die Provenienz und die Sortenklassifizierung des Kakaos. Die winzigen Mengen der Edelsorte Criollo, die in den Urwäldern von Venezuela, Bolivien und Brasilien wild geerntet werden - sie bilden gerade mal drei Prozent der Weltproduktion - gelten als der edelste Stoff. Alles übrige erbringen die Massenträger Forastero und Trinitario, die vor allem in Afrika und Indonesien angebaut werden.

Doch die Klasse einer Schokolade hängt nicht nur vom verwendeten Kakao ab, auch bestes Material kann dumpf und verschlossen wirken, wenn seine Finessen nicht in einem langen hochkomplexen Umwälzprozess herausgeknetet werden. Bis zu 72 Stunden lang wird gute Schokolade conchiert, dann erst offenbart sie ihre letzten Geheimnisse.

Angeboten wird der neue Naturstoff in Zubereitungen, die zwischen 50 und 90 Prozent Kakao enthalten, auf den Billigeffekt von Zucker aber fast ganz verzichten. Der Kosmos an Feinbitternoten, der sich da auftut - zwischen fruchtig, rauchig, blumig und nussig - will also erobert sein. Nicht jeder wird da spontan Zugang finden, doch die sinnlichen Kombinationen mit Früchten und Gewürzen öffnen den Geschmacksfächer in alle nur denkbaren Richtungen.

Orange, Zimt, Klatschmohn, Stachelbeere, Schwarzbier, Koriander, Lakritz, Granatapfel, Tee, Rhabarber, Paprika, Zitronengras, Lavendel, Hanf, Kaffee - sie alle kommunizieren lebendig mit dem exotischen Bitterstoff. Aber auch mit Salzigem, mit Fleur de Sel, mit Grieben oder Oliven tut sich Schokolade kreativ zusammen. Ja den edelsten Tropfen, die wir kennen, den ehrwürdig alten Spirituosen und den erhaben großen Rot- und Süßweinen, ist in der dunklen Schokolade ein würdiger Partner herangewachsen. Quetzalcoatl sei Dank!

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