Corona und Schlangestehen:Die Abstands-Wauwaus

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Schlangestehen - in Coronazeiten noch anstrengender. (Foto: Illustration: Stefan Dimitrov)

Beim Bäcker, an der Eisdiele, vor dem Schwimmbad: Schlangestehen ist durch Corona zum ungeliebten Volkssport geworden. Wie man das Warten in Reihe würdevoll gestaltet.

Von Violetta Simon

Die Schlange hat keinen guten Ruf. Wer eine sieht, zuckt zurück wie das sprichwörtliche Kaninchen. So gesehen ist es wohl naheliegend, dass den Menschen für eine so unbeliebte Tätigkeit wie Herumstehen und Warten keine bessere Bezeichnung einfiel als: genau, Schlangestehen. Sicher ist, Schlangestehen nervt. Minuten dehnen sich wie Kaugummi, in absurd kurzen Abständen wandert der Blick zur Uhr, nach vorn, aufs Handy, nach vorn, auf die Uhr, während die inneren Monologe auf Kleinkindniveau sinken: Langweilig! Pinkeln! Durst!

Die Psychologie des Anstehens beschäftigt Wissenschaftler seit Jahrzehnten, es gibt ganze Dissertationen dazu, nach welchen Kriterien Menschen beurteilen, ob es Sinn macht, sich in einer Schlange einzureihen oder lieber nicht.

Warten und Anstehen
:Von Menschentrauben und Schlangenlinien

Nicht jeder verliert in der Schlange die Nerven, manche verdienen auch Geld damit. Über die Kultur des Anstehens in anderen Ländern.

Von Violetta Simon

Wofür Menschen sich anstellen, ist sehr unterschiedlich. Die New Yorker tun es besonders eifrig für Rainbow-Bagels und Cronuts eines gewissen Dominique Ansel. Manche stehen voller Zuversicht (oder standen, bis Corona dazwischenkam) nachts vor der Tür eines Clubs - mit der Aussicht auf überteuerte Getränke, einen Gehörschaden und der Option, wieder weggeschickt zu werden. Oder Ikea! Was für ein magischer Ort muss das sein, der Menschen dazu bringt, derart ausdauernd erst für einen Parkplatz, später eine Portion Köttbullar und schließlich das Bezahlen von überflüssigen Dingen anzustehen - und alles nur, weil zuhause die Teelichter knapp wurden.

Wenn die Schlange zum Python wird

Mit der Corona-Pandemie hat die Warterei eine neue Dimension erreicht: Seit nur eine begrenzte Personenanzahl Bäckereien und Schuhgeschäfte betreten darf, bilden sich selbst dort Schlangen, wo früher keine waren. Durch den Sicherheitsabstand ähnelt die Schlange vor Eisdiele und Freibad allerdings eher einem ausgewachsenen Netzpython.

Dabei verbrachten die Deutschen bereits vor Corona besonders viel Zeit in Warteschlangen. Ein - in dieser Sache sicher nicht unvoreingenommener - Getränkelieferdienst will herausgefunden haben, dass sämtliche Bundesbürger insgesamt mehr als 57.432,5 Jahre an Supermarktkassen herumstehen, länger als Italiener (49.685) und Franzosen (46.881) - und das jedes Jahr. Setzt man die Wartezeit mit der jeweiligen Bevölkerungszahl ins Verhältnis, stehen die Deutschen der Datenplattform Statista zufolge bei jedem Einkauf durchschnittlich sieben Minuten an der Kasse (und nehmen damit von 23 Ländern den 16. Platz ein) - weit hinter Portugal (2,49 Minuten), Irland (2,61) und Finnland (2,71).

Am 11.11.1989 stehe Menschen aus der DDR zur Auszahlung des Begrüßungsgeldes vor der Kreissparkasse im niedersächsischen Duderstadt Schlange. (Foto: Hansjörg Hörseljau/picture-alliance/ ZB)

Warteschlangen haben das Potenzial, die negativen Seiten im Menschen zum Vorschein zu bringen. Nun, durch Corona und die damit verbundenen Sicherheitsmaßnahmen, liegen die Nerven ohnehin blank und verstärken das Aggressionspotenzial. Medien- und Polizeiberichte zeigen: Streit, Schlägereien und Verletzte beim Schlangestehen vor dem Baumarkt oder an der Supermarktkasse sind keine Seltenheit, das war schon vor Corona der Fall.

"Eine Schlange bedeutet für die meisten erst einmal Stress", sagt Moritz Freiherr Knigge, Nachkomme jenes Aufklärers, dessen Buch "Über den Umgang mit Menschen" (1788) bis heute zu den Standardwerken zählt. Und Stress sei der Todfeind der Höflichkeit. "Wenn wir ankommen, wollen wir alle sofort unser Bedürfnis erfüllt haben . Die Schlange steht dieser Erfüllung im Weg, andere Menschen werden damit zu Konkurrenten." Somit herrscht an Supermarktkassen Wettbewerb, viele haben gelernt: Dreistigkeit setzt sich durch - keine gute Basis für ein harmonisches Miteinander.

"Bleiben Sie gelassen, gehen Sie nicht gleich vom Schlimmsten aus", rät der 51-Jährige, der in Vorträgen und Büchern die Kunst der wertschätzenden Kommunikation vermittelt. Manche witterten sofort Angriff, so werde die Kommunikation zum Schlagabtausch. "Dabei machen sich manche einfach keine Gedanken. Ich glaube an das Phänomen der Missverständnisse - horchen Sie einfach mal in sich selbst hinein." Und selbst wenn man im Recht ist, sollte man nicht gleich lospoltern. Der eigentliche Konflikt entstehe oft erst, wenn jemand andere rüde zurechtweise, da bleibe niemand gelassen. "Wir sollten lieber mit positivem Beispiel vorangehen und es besser machen."

Was ist noch Sicherheitsabstand, was schon Lücke?

Hinzu kommt: Durch die Corona-bedingten Sicherheitsregeln ist die Interpretation dessen, was eine freie Lücke ist, noch weniger eindeutig. Jederzeit könnte jemand den Platz vor einem einnehmen, weil er nicht erkennt (oder erkennen will), dass es sich um den offiziellen Sicherheitsabstand handelt. Bei den Briten dürfte der Mindestabstand von eineinhalb Metern für besondere Verwirrung gesorgt haben. Bislang galt beim korrekten "Queuing" laut Guardian die Faustregel: "Lassen Sie so viel Platz, wie Sie beim Tanzen mit Tante Hildegard lassen würden." Hielt jemand mehr Abstand zum Vordermann, würde der nächste Wartende unweigerlich fragen: "Are you in the queue?" ("Stehen Sie in der Schlange?") - was so viel bedeute wie "Wissen Sie nicht mal, wie man sich richtig anstellt?" Nun, sich richtig anzustellen, bedeutet neuerdings genau das Gegenteil: Nackenatmer sind zu Coronazeiten im Irrtum.

Die Drängelei hat allerdings gute Gründe: Eine Schlange verstärkt vorhandene Ängste - da ist die Ungewissheit, ob vom Pistazieneis noch etwas übrig sein wird, wenn man endlich dran ist. Die Furcht, jemand könnte sich heimlich vordrängeln und einem das letzte Freibad-Ticket vor der Nase wegschnappen. Dann die fixe Idee, die Leute in der anderen Schlange kämen schneller voran. Der Spurwechsel beim Anstehen ist so beliebt wie ineffektiv (wie dieser Animationsfilm zeigt).

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"Ohne klare Regeln werden Anstehende oft unruhig", sagt Knigge, der das Buch "Anleitung zum Unhöflichsein - von der Kunst, sich virtuos danebenzubenehmen" geschrieben hat. Seit etwa die Post und die Deutsche Bahn eingeführt haben, dass Kunden sich in eine gemeinsame Schlange anstellen und zu gegebener Zeit den nächsten freien Schalter ansteuern, hat sich zumindest die Hin- und Herhüpferei gelegt.

Ein sinnvolle Maßnahme wäre zum Beispiel auch, sich in der Öffentlichkeit so anzustellen, dass man nicht den Fußgängern (inklusive Kinderwagen, Fahrrad und Roller) im Weg steht, die beim Passieren der Schlange für einen Sekundenbruchteil den Sicherheitsabstand zwischen zwei Wartenden halbieren - und damit weitere Irritationen auslösen.

Darüber hinaus falle durch die Maske ein wichtiges Kommunikationsmittel weg, sagt Knigge: "Das Lächeln, das Vertrauen vermittelt." Deshalb sei es umso wichtiger, klar und freundlich zu kommunizieren. "Machen Sie den Mund auf, sprechen Sie in ruhigem und fröhlichem Ton, um das Lächeln zu ersetzen." Ohnehin könnte man die Wartezeit viel besser nutzen, sagt der Experte für respektvollen Umgang: zum Beispiel für eine nette Unterhaltung.

Wer übrigens behauptet, Schlangestehen sei von Grund auf demokratisch und gerecht, dem seien die "Aufzeichnungen eines Blockademenschen" (1997) der sowjetischen Autorin Lidia Ginsburg ans Herz gelegt. Aus ihren Betrachtungen zum Thema Schlangestehen geht hervor, dass Männer den Zustand der Untätigkeit besonders schwer aushielten - weil sie gewohnt seien, dass ihre Zeit wertvoll sei, während Frauen seit jeher wüssten, dass ihre bevorzugte Zeiteinteilung, etwa durch Haushalt und Kinder, häufig nicht berücksichtigt würde. Männer würden auch oft drängeln, da sie der Meinung seien, Brot stehe ihnen zu, ohne dass sie dafür anstehen müssten: "Der Mann weiß, dass die Zeit stets zu seinen Gunsten verteilt wird."

Die Verteilung der Zeit zugunsten des Mannes, sie ist übrigens bisweilen heute noch zu beobachten, etwa im Theater oder auf Konzerten: Während die Herren bereits Minuten später am kühlen Bier nuckeln, stehen die Damen noch beim ersten Pausengong Schlange - vor der Toilette.

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