Süddeutsche Zeitung

Schicksalschläge:Die richtigen Worte finden

Lesezeit: 7 min

Wenn ein Freund schwer krank wird, verschlägt es einem die Sprache. Eine ALS-Patientin und eine Hospizbegleiterin erklären, ob Trost überhaupt Worte braucht.

Eike Schrimm

Bettina Hogreve (Name von der Redaktion geändert) ist 47 Jahre alt. Sie weiß seit Ende Januar, dass sie Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) hat. Das ist eine chronische und fortschreitende Erkrankung des zentralen Nervensystems. Für Bettina Hogreve ist es mühsam geworden, einfache Dinge zu verrichten. Ihr linker Arm ist teilweise gelähmt, so dass sie kaum allein eine Bluse zuknöpfen kann. Beim Gehen hilft ihr ein Stock, demnächst bekommt sie einen Rollator. Auch die Zunge ist betroffen, so dass sie nur lallend und langsam sprechen kann. Ihren Beruf als Krankenschwester kann sie nicht mehr ausüben. Sie lebt mit ihrem Mann zusammen. Im Interview beschreibt sie, welche Worte und Gespräche ihr helfen, aber auch auf welche sie für immer verzichten will.

sueddeutsche.de: Viele Menschen sind überfordert, wenn Freunde oder Familienmitglieder krank werden. Sie sind überwältigt und wissen nicht, wie man mit dem Kranken umgehen darf. Was können Sie ihnen raten?

Bettina Hogreve: Ein schwerkranker Mensch ist trotz allem immer noch dieselbe Person mit Interessen, Wünschen und Bedürfnissen. Ich habe diese Krankheit, aber ich bin nicht diese Krankheit. Sie ist nur ein Aspekt von mir. Was kann ich raten? Den Kranken oder die Kranke nicht auf die Krankheit reduzieren. Ständige mitleidige Blicke und ein bedauerndes "Und wie geht es dir?" grenzen aus. Offen für den Menschen da sein und ihn teilhaben lassen am eigenen Leben. Absolute Ehrlichkeit ist das Wichtigste. Das heißt: Die eigene Sprachlosigkeit und Betroffenheit ruhig ansprechen. Ich freue mich darüber, denn so bekomme ich die Möglichkeit, dazu Stellung zu nehmen. Schon ist es für beide Seiten leichter. Und wenn man gemeinsam schweigt oder weint, dann ist das auch gut. Der Kranke wird dafür mehr Verständnis haben als für hohles Geschwätz.

sueddeutsche.de: Worauf sollte man als Besucher achten?

Hogreve: Bedenken Sie immer, dass ein schwerkranker oder sterbender Mensch erkennen muss, das alles in seinem Leben vergänglich ist. Er muss alles wieder abgeben. Alles. Seine Träume, sein Streben, seine Fähigkeiten, alles was ihm gehört. Auch geliebte Menschen müssen zurückgelassen werden. Er muss Abschied nehmen lernen mit allen Konsequenzen. Helfen Sie ihm dabei durch Nachfragen. Oder teilen Sie ihm mit, wie es Ihnen in dieser Situation gehen würde. Seien Sie immer offen und ehrlich.

sueddeutsche.de: Worüber ärgern Sie sich am meisten?

Hogreve: Wenn Menschen mir nicht richtig zuhören, obwohl sie wissen, dass mir das Sprechen schwerfällt. Dann müssen sie immer nachfragen. Ein paar Leute machten mir zum Vorwurf, ich würde mich zurückziehen. Das dürfe ich nicht tun. Das hat mich sehr erstaunt. Oder wenn kein Verständnis da ist, wenn es um das Thema Sterben geht. Manche glauben tatsächlich, es ist besser schwerbehindert zu sein als tot. Das mag für sie stimmen, aber nicht für mich. Ein Beispiel: Als ich die Bemerkung fallenließ, dass ich nicht mehr leben wolle, wenn ich nicht sprechen und schlucken kann, meinte eine Sprach- und Schlucktherapeutin: "Aber stellen Sie sich doch mal vor, Sie liegen im Bett, die Ernährungspumpe läuft und Ihr Mann liest Ihnen vor." Das sollte wohl ein Witz sein.

sueddeutsche.de: Gab es noch mehr Enttäuschungen?

Hogreve: Enttäuscht worden bin ich nur selten und wenn, dann wissen die Leute nicht, wie sie mit mir umgehen sollen. Das sind eher Berührungsängste, denke ich. Die schlimmste Erfahrung mit meinen Mitmenschen in Bezug auf die Krankheit war, dass sich ein paar Leute definitiv abgewandt haben. Das waren aber keine wahren Freunde und deshalb tut es auch nicht mehr weh.

sueddeutsche.de: Haben sich Ihre Freundschaften geändert?

Hogreve: Die Beziehungen zu guten Freunden sind intensiver geworden. Ich erfahre große Hilfsbereitschaft und echte Zuneigung. Von meiner Familie habe ich absolute Unterstützung. Vor allem von meinem Mann, der alles für mich tut. Sein Vater starb im Alter von 45 Jahren an ALS.

sueddeutsche.de: Was hat Sie überrascht an Menschen, seit Sie an ALS erkrankt sind?

Hogreve: Die spontane Hilfsbereitschaft. Oft sind es kleine, freundliche Gesten, ein verständnisvolles Lächeln oder ein Sitzplatz in der Tram, den mir ein Fahrgast angeboten hat. Auch meine Nachbarin im Haus unterstützt mich sehr. Andere gehen eher auf Distanz. Vielleicht ist es deren eigene Angst, die sich in mir spiegelt und die ihnen zu verstehen gibt, wie schnell alles vorbei sein kann.

sueddeutsche.de: Wie kann man Ihnen das Leben ein wenig leichter machen?

Hogreve: Es gibt Tage, an denen ich in Trauer und Wut versinke. Das wird aber immer seltener. Manchmal denke ich: "Aus diesem Albtraum muss ich doch wieder erwachen." Leider nicht in diesem Leben. Trotz alledem gibt es auch viele schöne Momente: Lachen mit Freunden, stille Stunden mit meinem Mann, draußen in der Natur sein, oder den Duft des Sommers atmen. In solchen Momenten vergesse ich die Krankheit und bin ganz bei mir.

Mich tröstet, wenn Menschen einfach da sind, wenn ich offen über meine Situation sprechen kann und ich verstanden werde. Erleichtern kann man mir das Leben mit kleinen Freuden: ein hübsches Geschenk, ein gutes Buch, ein köstliches selbstgekochtes Essen, ein edler Wein, aber vor allem das Zusammensein mit meinem Mann und mit meinen Freunden. Außerdem finde ich Trost in meiner täglichen Meditation. Das habe ich bereits vor der Krankheit praktiziert.

sueddeutsche.de: Auf welche Reaktionen können Sie verzichten?

Hogreve: Geheuchelte Anteilnahme. Auch Mitleid tut weh. Es vermittelt mir das Gefühl, eine bedauernswerte Kreatur zu sein.

sueddeutsche.de: Was belastet Sie?

Hogreve: Lange Telefonate und viele Fragen. Ich war immer eine gute Zuhörerin, aber viel reden strengt mich an. Zum Glück gibt es die E-Mail. Oder ich fühle mich nutzlos, besonders, wenn andere von ihren Aktivitäten berichten. Und bedrängt werden mag ich gar nicht. Auch Vorwürfe sind ganz schlimm. Wenn ich zum Beispiel mal keine Lust habe etwas zu unternehmen und es auch so sage, heißt es manchmal: "Du darfst die Menschen nicht so vor den Kopf stoßen." Ehrlich gesagt hat mich dieser Ratschlag vor den Kopf gestoßen.

sueddeutsche.de: Welche Reaktionen helfen Ihnen?

Hogreve: Mitgefühl und Hilfsbereitschaft bringen mir mehr. Auch Verständnis hilft. Zum Beispiel dafür, dass ich nicht mehr so viel unternehmen kann wie früher. Oder für meine Sicht der Dinge bei den Themen Leiden, Sterben und Tod.

sueddeutsche.de: Sie bekommen regelmäßig Besuch von einem Hospiz- und Palliativberatungsdienst. Was bedeuten Ihnen die regelmäßige Gespräche?

Hogreve: Ich schätze besonders die kompetente und verständnisvolle Beratung. Die Herzlichkeit und Geborgenheit die mir vermittelt wird. Reden und Umgang mit dem Thema Sterben ohne Tabu. Die Aussicht auf die Möglichkeit zu Hause und gut begleitet sterben zu können, macht mir vieles leichter. Ich fühle mich verstanden und weniger allein.

weiter: Eine Hospizbegleiterin über ihre Erfahrungen mit schwer kranken Menschen.

Andrea Echtermann ist ehrenamtlich im Vorstand des Münchner Hospiz- und Palliativdienstes "Da Sein" tätig. Die Körperpsychotherapeutin bildet Hospizbegleiter fort und erklärt, wie man schwerkranke Menschen mit Worten unterstützt, aufbaut und tröstet.

sueddeutsche.de: Die Botschaft der Freundin "Ich habe Krebs" haut einen um. Darf man seinem Entsetzen Luft machen?

Andrea Echtermann: Bei einer Freundin verhalte ich mich sicher anders als bei einem zunächst fremden Menschen. Es gibt kein Rezept für richtiges Verhalten. Wichtig ist es, sich auf sein Gegenüber mit der ganzen Person einzulassen, mitfühlend und offen und möglichst präsent zu sein. Im aufmerksamen Hinschauen und Hinhören kann erspürt werden, über welche Themen der andere sprechen möchte und über welche nicht.

Das heißt, Sie sollten versuchen zu erfahren, wie die Gesamtbefindlichkeit des Kranken ist, was für ihn besonders belastend ist und wo er gelassen sein kann. Erst wenn Sie dies erfasst haben, können Sie entsprechend reagieren. Sie werden merken, welche Fragen Sie stellen dürfen und welche nicht. Verschließt sich der Patient, so schweigen Sie. Dann ist mit Stille mehr geholfen als mit Worten.

sueddeutsche.de: Als Zuhörer ist man so hilflos. Wie kann man trösten?

Echtermann: Vielleicht hat die Freundin früher mal einen Wunsch geäußert oder spricht jetzt von Dingen, die sie gerne machen würde. Oft sind es in unseren Augen ganz kleine Dinge, wie zum Beispiel gemeinsam ein Eis essen gehen in der Stadt. Versuchen Sie doch dies oder ähnliche alltägliche Sachen möglich zu machen. Damit können Sie dem Betroffenen Freude machen, dass es ihm ein Trost ist, können Sie nur hoffen.

sueddeutsche.de: Wenn die Schmerzen besonders schlimm sind, ist Ablenkung besser als Mitgefühl?

Echtermann: Mit der Ablenkung ist es schwierig: Erzählen Sie nur von sich, was Sie so am Tag erlebt haben oder welche Probleme Sie haben, erlebt das der Kranke schnell als Ablehnung. Stellen Sie lieber ihn in den Mittelpunkt und versuchen Sie mit vorsichtigen Fragen herauszufinden, über welche Dinge er sprechen will. Dann geben Sie ihm die Möglichkeit, sich mitzuteilen.

sueddeutsche.de: Die Freundin verschließt die Augen vor dem nahen Tod und weigert sich, sich damit auseinanderzusetzen. Wie geht man mit dieser Illusion um?

Echtermann: Auf jeden Fall mit Respekt, Achtsamkeit und Verständnis. Wenn jemand nicht über seinen vermutlich nahen Tod sprechen möchte, ist das unbedingt und immer zu akzeptieren. Jeder darf für sich selbst entscheiden, wie er mit seinem Sterben umgehen will. Wir wissen es auch nicht besser. Wenn jemand im Sterben liegt, gibt es keine Patentrezepte.

sueddeutsche.de: Wie kann man die Frage nach dem Warum beantworten?

Echtermann: Ganz ehrlich und authentisch als die Person, die man ist. Es gibt hier keine Formeln. Man könnte vielleicht sagen: "Ich frage mich das auch und ich habe keine Antwort für dich."

sueddeutsche.de: Sie arbeiten auch als Hospizbegleiterin. Sind Sie dann nicht auch ein Symbol für den Kranken, der dann denkt: Jetzt geht es zu Ende mit mir?

Echtermann: Unser Hospizdienst ist überkonfessionell und keiner Kirche zugeordnet. Wir sind also keine Geistlichen, die an das Sterbebett bestellt werden. Wir kommen nur auf ausdrücklichen Wunsch der Angehörigen oder des Betroffenen und betrachten uns in deren Dienst stehend.

sueddeutsche.de: Werden Sie auch manchmal abgelehnt von einem Patienten?

Echtermann: Natürlich. Aber dann erkläre ich, warum ich da bin: "Ihre Frau hat mich angerufen. Sie braucht etwas Zeit für sich und ich bin hier um sie zu entlasten." Oft fällt die Barriere nach einer Zeit und der Patient ist froh, dass jemand ganz für ihn da ist.

sueddeutsche.de: Wie finanziert sich der Hospiz- und Palliativdienst "Da sein"?

Echtermann: Wir bekommen bei häuslichen Begleitungen Zuschüsse von den Krankenkassen, finanzieren uns von Spenden, Mitgliedsbeiträgen und gelegentlichen Bußgeldzuweisungen. Für den Patienten und seine Angehörigen entstehen keine Kosten. Wir beraten, helfen ganz konkret beim Aufbau eines umfassenden Versorgungs- und Betreuungsnetzes. Daneben informieren wir auch über Patientenverfügungen und andere wichtige Fragen.

sueddeutsche.de: Wenn sich der Patient wieder erholt, brechen Sie dann den Hospizdienst ab?

Echtermann: Nein, unser Angebot ist nicht zeitlich begrenzt. Wir wenden uns den Menschen in der letzten Lebensphase zu: Vier Wochen, drei Monate und auch schon mehr als ein Jahr haben Begleitungen gedauert. Und auch hier zählt wieder: Es gibt keine Leitlinien, keine Regeln. Der Patient steht im Mittelpunkt, sein Wille, seine Bedürfnisse und seine Wünschen sind unser oberstes Anliegen und Gebot.

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