Süddeutsche Zeitung

Schaufenster in London:Das große Weihnachts-Wettrüsten

Wer hat das opulenteste Schaufenster? In London versuchen sich die Kaufhäuser mit überdrehten Dekorationen gegenseitig auszustechen.

Alexander Menden

Die Eröffnung der Weihnachtssaison bei Selfridges begann in diesem Jahr mit einem kleinen Skandal. Es war nicht etwa das Datum, der 28. Oktober, zu dem so früh wie nie zuvor die Schaufensterdekorationen im Luxuskaufhaus an der Londoner Oxford Street präsentiert worden waren. Über das immer eher einsetzende Weihnachtsgeschäft empört sich in England kaum noch jemand öffentlich. Selfridges sah sich vielmehr unversehens dem Vorwurf der Respektlosigkeit gegenüber einem Toten ausgesetzt.

Stein des Anstoßes war eine Gruppe lebensgroßer Schaufensterpuppen mit überlebensgroßen Köpfen, die es sich um einen weiß-rosa gestrichenen Planwagen herum gemütlich gemacht haben. Sie waten durch ein Meer von Weihnachtsbaumkugeln, tragen Designware und blicken aus tellerrunden Riesenaugen ins Gewimmel auf der Oxford Street. Nun ähneln aber diese starrenden Gesichter verblüffend der Maske, mit welcher der im vergangenen Juni gestorbene Komiker Chris Sievey aufzutreten pflegte, wenn er seine Kunstfigur Frank Sidebottom spielte.

Sieveys Familie fand das nicht lustig und beschwerte sich über die ungenehmigte Aneignung. "Wir hatten uns von Frank Sidebottom inspirieren lassen, aber es war natürlich nie unsere Absicht, uns über einen Toten lustig zu machen", beteuert Erin Thompson, die das Selfridges-Design-Team leitet. Der Streit wurde beigelegt, nachdem Selfridges einen (nicht genannten) Betrag an Sieveys Erben überwiesen und eine Danksagung an Frank Sidebottom im Schaufenster angebracht hatte.

Die Menschenmassen auf der Oxford Street sind womöglich das größte Publikum, dem sich Sidebottom, wenn auch nur posthum, je präsentieren durfte: Täglich schieben sich rund 125.00 Shopper an den Schaufenstern von Selfridges vorbei. Deren Design wird achtmal im Jahr geändert, doch das Weihnachts-Dekor ist das mit Abstand aufwendigste. "Wir planen bis zu 14 Monate im Voraus", erklärt Erin Thomson. "Die Herausforderung dabei ist es, saisonale Trends vorauszusehen."

Selfridges hat keine eigene Werkstatt. Spezialfirmen, von denen viele auch Theaterbühnenbilder und Filmsets konstruieren, liefern von März an Bauteile und Requisiten. In diesem Jahr hieß das übergreifende Thema laut Thompson "Verspieltheit". Das Ergebnis sind Szenen, die ein wenig an die sinistren Installationen der Brit-Art-Künstler Jake und Dinos Chapman erinnern: Puppen im Weihnachtsmann-Outfit mit aufgeklebten Glupschaugen und Grinsemündern lassen Figuren aus dem Pixar-Film Toy Story als Marionetten tanzen. Barbie und ein deprimiert dreinblickender Ken feiern eine rosarote Weihnacht. Und eine Unzahl fingergroßer Tierpüppchen haben ihr Schaufenster als eine Art Nest ausgebaut.

Dieses überdreht opulente Flair hat Tradition in den Auslagen von Selfridges. Als der amerikanische Kaufhausmagnat Gordon Selfridge 1909 den klassizistischen Konsumtempel in London eröffnete, waren seine Schaufenster die größten der Welt. Selfridge setzte nicht darauf, Waren nebst Preislisten aufzustellen, sondern zog das Publikum mit Designideen an.

So ließ er 1930 zehn Landschildkröten in einem Fenster aussetzen, auf deren Rückenpanzer mit Diamanten je ein Buchstabe des Wortes "Selfridges" geschrieben war. Selfridge setzte Preise für Kunden aus, die den Augenblick abpassten, in dem die Tiere (zufällig) den Namen des Ladens buchstabierten.

So etwas wäre wohl heute schon aus Tierschutzgründen nicht mehr möglich. Aber die geschäftstüchtige Dekadenz hat Selfridges sich bewahrt: Im Ladeninnern konnte man dieses Jahr bereits seit August Weihnachtsartikel kaufen, was den Vorweihnachts-Profit im Vergleich zu 2009 Jahr um rund 50 Prozent steigen ließ.

Zehn riesige Discokugeln, die im Treppenhaus an automatisierten Flaschenzügen auf- und niedersegeln, erzeugen die gewünschte Stimmung: Weihnachten, das ist hier, wie überall im Dreieck zwischen Oxford Street, Regent Street und Piccadilly, eine kompromisslose, jede Saison länger währende Shopping-Party. Auch 2010 werden, trotz der anhaltenden britischen Finanzmisere, wieder Rekordumsätze erwartet.

An diesem Rekord will sich auch Fortnum & Mason an Piccadilly beteiligen. In dem 1707 gegründeten Kaufhaus mit der mintgrünen Fassade verdreifacht sich der Kundenandrang in der Vorweihnachtszeit. Fortnum & Mason ist alljährlich der ernsthafteste Konkurrent von Selfridges im inoffiziellen Wettstreit um die spektakulärste Weihnachts-Fensterdekoration Londons.

In jüngerer Vergangenheit wurden über mehrere Fenster hinweg Dickens' "Christmas Tale" oder Carolls "Alice" als eine Art Weihnachtsmärchen erzählt. Im vorigen Jahr war das Thema "Schwanensee", inspiriert von Matthew Bournes berühmter, nur mit Männern besetzter Choreographie. "Man kann die Kritik nie vorhersehen", sagt Paul Symes, "Visual Presentation Manager" bei Fortnum & Mason. "Kurz nachdem wir das Ballett-Dekor präsentiert hatten, fragte jemand ernsthaft per Brief an, ob wir damit hätten andeuten wollen, dass Prinz Charles schwul sei."

Solche Kontroversen wird es dieses Jahr nicht geben. In einer gewissen Abkehr von der Puppenstuben-Anmutung des Hauses sind in den Schaufenstern heuer vergleichsweise geschmackvolle 3-D-Kopien von Gemälden aus der National Gallery zu sehen.

Die Weihnachtsandeutungen sind so dezent, dass man schon sehr genau hinsehen muss, um sie zu entdecken: In einer Canaletto-Ansicht Venedigs transportiert ein Gondoliere einen kleinen Weihnachtsbaum; weitere Bäumchen sind in Meindert Hobbemas "Allee von Middelharnis" und in einer Winterszene seines flämischen Landsmannes Hendrick Avercamp versteckt. Aus zwei Stillleben von Willem Claesz scheinen Beeren und Früchte aus dem Rahmen auf den Boden des Schaufensters gefallen zu sein.

Das Design von Fortnum & Mason findet Paul Symes "ohnehin schon so kitschig", da habe man dieses Jahr einmal eine etwas anspruchsvollere Note hineinbringen wollen: "Und wenn ein paar Kunden unsere Schaufenster sehen, und nicht nur Lust bekommen, etwas zu kaufen, sondern sich vielleicht auch die Originale in der National Gallery anzusehen, hat es sich doppelt gelohnt."

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Quelle:
SZ vom 24.11.2010/bre
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