Sack Reis:Schwarz sehen!

Es ist die Stunde der Menschen, die sich jetzt endlich mal wieder entspannen wollen. Auch wenn die Zeichen schlecht stehen, sagen sie: Alles halb so wild. Wird schon. Ist doch noch immer geworden. Nein, nein, nein. Ist schon verdammt oft schiefgelaufen.

Von Kai Strittmatter

Kann man schon machen, sich zum Jahreswechsel das neue Jahr schöntrinken. Die Monster, die an die Tür klopfen. Weil der Trump es in Wirklichkeit gar nicht so meint und die Börsen sogar beflügelt. Weil die Engländer in Europa eh genervt haben. Weil man die Vögel von der AfD nicht ernst nehmen muss. Weil man sich bald das Schneeschaufeln sparen kann. Kann man schon machen. Dann muss man sich aber nicht beschweren, wenn man dereinst mit dem Kater des Jahrhunderts erwacht, mit einem Biest, das einem den Schädel sprengt und das Zuhause dazu.

Wird schon. Ist doch noch immer geworden. Nein, ist es nicht. Ist schon verdammt oft schief gelaufen. Läuft gerade an verdammt vielen Fronten schief.

Schwarzseher. Hießen mich in den letzten Wochen einige Freunde und Leser. Leicht befremdet. Dabei braucht es zum Schwarzsehen in diesen Tagen nicht viel. Augen aufreißen reicht. Und nein, dieses Schwarzsehen ist jetzt nicht Defätismus und Resignation, es ist im Gegenteil der Aufruf zum Engagement, für all das, was uns lieb ist. Und natürlich holt sich der Schwarzseher den Optimisten zum Partner, dann, wenn es ein kämpferischer Optimismus ist. Darauf muss man sich einigen: Da wartet ein Kampf, der ausgefochten werden muss. Auch dem Schwarzseher ist die Hoffnung die lebensrettende Kraft. Die Hoffnung, die sich speist aus dem Wissen um die Stärke und die Leuchtkraft der eigenen Ideen, für die so viele Generationen gekämpft haben. Viele scheinen das zu vergessen: Dass wir Europäer wohl in der besten aller Zeiten und am besten aller Orte leben - dass ein solches Leben in Freiheit von Gewalt und Willkür und Furcht in der langen Geschichte der Menschheit aber keineswegs zwangsläufig, sondern die eher unwahrscheinliche Ausnahme war und ist. Und viele begnügen sich mit der Hoffnung der Braven und Bequemen, die darauf vertrauen, der Weltenlauf werde sie schon nicht streifen, weil sie ihn doch ihrerseits auch stets brav in Ruhe ließen. Es ist die Hoffnung des Biedermanns, der bei Max Frisch darauf setzt, dass die Brandstifter doch ganz umgängliche Kerle seien, die es sicher nicht so meinten. Doch, sie meinen es so. "Die beste und sicherste Tarnung ist immer noch die blanke und nackte Wahrheit", sagt einer von ihnen.

Alles vergessen? Fehlt das Gespür dafür, wie dünn der Boden ist, auf dem wir schlafwandeln? Man sollte die Leute zwangsverpflichten: Jeder müsste einmal ein Jahr außerhalb seiner Zone der Gemütlichkeit leben. Der eine in der Türkei, wo sie gerade die Demokratie zerlegen. Der andere in Russland oder in China, wo der Zynismus und die Lüge längst zur Staats- und Lebensräson geworden sind. In China könnten sie Ah Q kennenlernen, die bekannteste Romanfigur des Landes. Ah Q ist einer, der sich noch das schlimmste Ungemach schönredet und noch die größte Demütigung in einen Triumph für sich umdeutet. Wie das eine Mal, als er verprügelt wurde und die Prügelei damit beendete, dass er sich selbst ohrfeigte, was ihm Genugtuung verschaffte, war ihm doch so, als ohrfeige er jemanden anders: "Wieder einmal hatte er den Sieg errungen."

Wird schon? Mag sein. Aber wenn es am Ende wird, dann eben deshalb, weil viele das Schwarze sehen und als Gegner ausmachen. Der Schöpfer des Ah Q, der große, hellsichtige Lu Xun, gab seiner Geschichtensammlung 1921 diesen Titel: "Aufruf zum Kampf".

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