Rosenball in Berlin:Wenn Kinder einen Schlaganfall erleiden

Schlaganfall beim Kind

Larissa (11) aus Berlin hatte bei der Geburt einen Schlaganfall. Diagnostiziert wurde er erst vor wenigen Jahren.

(Foto: privat)

Der Schlaganfall trifft nicht nur alte Menschen. Die elfjährige Larissa erlitt ihn bei der Geburt - und lernt immer noch, damit zu leben.

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Eigentlich hätte es ein Moment der Freude sein sollen: Die kleine Larissa lernt laufen. Ein Adoptiv- und daher absolutes Wunschkind für Marion Jager. Doch als Physiotherapeutin hat die Berlinerin nicht nur den mütterlich-stolzen, sondern auch den professionellen Blick auf ihr Kind und merkt ziemlich schnell: Da stimmt was nicht.

Sie soll recht behalten. Dass Larissa sich nicht richtig aufrecht halten kann, lieber über eine Seite abrollt als über die andere, dass die ersten Schritte noch wackeliger sind als bei anderen Anderthalbjährigen - all das waren die ersten Anzeichen für einen Schlaganfall. Larissa muss ihn schon bei der Geburt erlebt haben, richtig diagnostiziert wird er aber erst viele Jahre später.

"Im Krankenhaus, wo sie geboren wurde, hatte niemand etwas davon bemerkt: Alle Werte waren vorbildlich", erzählt Marion Jager, heute 48, in ihrer Praxis in Wilmersdorf. Therapiehund Amy spielt ausgelassen mit Larissa. Die Elfjährige trägt einen bunt geringelten Pulli und langes lockiges Haar. Dass ihr rechtes Bein kürzer ist als das andere, merkt man erst auf den zweiten Blick, wenn sie es beim Gehen nachzieht.

Von den Jungs in der Klasse gemobbt - aber nicht lange

Warum das so ist, muss Larissa ihren Freunden und Mitschülern nicht mehr erklären. Das hat sie schon hinter sich. Eine Zeit lang haben ein paar Jungs aus ihrer Klasse sie geärgert, richtig gemobbt wegen dem Bein. Sie wäre manchmal so langsam und könne gar nicht richtig klettern, ob sie nicht ein bisschen doof sei, witzelten die. Irgendwann fasste Larissa sich ein Herz und erzählte ihnen ihre Geschichte.

Dass ein Schlaganfall bei ihrer Geburt sie dauerhaft geschädigt hat. Dass sie nichts dafür kann, dass ihre rechte Seite etwas lahmer ist als die andere und das Bein nicht richtig mitgewachsen ist. Dass sie für bestimmte Dinge immer länger brauchen wird als Gleichaltrige, schneller erschöpft und manchmal unkonzentriert ist. Und dass sie ansonsten genauso ist wie alle anderen auch. Die Jungs haben das mit den doofen Witzen dann bald sein lassen. Heute guckt sie in ihrer Klasse keiner mehr blöd an. Inzwischen wurde sie zur Klassensprecherin gewählt.

Wenn Larissa erzählt, braucht sie manchmal länger, um den richtigen Ausdruck zu finden. Aber das ist auch nicht so einfach: einem Blinden Farben zu erklären, einem Tauben das Hören - oder einem Gesunden, wie es sich in so jungen Jahren mit einer solchen Einschränkung lebt. Sie lächelt viel, fällt ihrer Mutter auch mal ins Wort, wenn sie selbst genauer erklären will, wie sich das anfühlt.

"Ich bin nicht krank"

Dass ihre Mutter Physiotherapeutin ist und schon vorher mit Schlaganfall-Patienten gearbeitet hat, ist Zufall - und ein Riesenglück. Marion Jager hat die Krankheit schnell erkannt, kennt sich aus mit den Folgen, war nicht so schockiert wie eine unbedarfte Mutter es vielleicht gewesen wäre und kann ihre Tochter ganz anders fördern. Andererseits: Sie auch noch selbst zu therapieren, das hat sie aufgegeben. Das sei nicht gut für die Mutter-Kind-Beziehung, hat ihr ein Arzt vor ein paar Jahren gesagt. Heute ist sie dankbar für den Tipp und schickt Larissa jeden Donnerstag zu einer Kollegin. "Bei dir hat die Therapie immer ein bisschen wehgetan, sie lässt mich eher ausruhen", lacht Larissa ihre Mutter frech an.

Schlaganfall beim Kind

Marion und Larissa Jager im Urlaub: Dank vieler Therapien und dem Einsatz ihrer Mutter kann die Elfjährige ein ziemlich normales Leben führen.

(Foto: privat)

Diese Unbeschwertheit hat sie wohl auch der Mutter zu verdanken. Die nicht verzweifelte an der Diagnose, sondern die Ärmel hochkrempelte und tat, was nötig war: integrativer Kindergarten, integrative Grundschule, Physio-, Ergo- und Musiktherapie, Therapie mit Pferden. Das war alles, auch vom Aufwand her, nicht immer einfach, sagt die Mutter heute. Viel Ehrlichkeit und ein offener Umgang mit der Krankheit halfen mit, dass Larissa sich heute nicht versteckt, sondern sich als ganz normales Mädchen fühlt.

"Ich bin nicht krank", sagt sie erstaunt auf die Frage, wie es ihr mit dieser Krankheit geht. Und dass ihre Freundinnen sie auch nicht anders behandeln als jede andere. Aber was wird sein, wenn sie dieses schützende Umfeld verlässt, wenn sie auf eigenen Beinen stehen muss, das eine kürzer als das andere?

Larissas Chancen stehen gut

Im kommenden Jahr wechselt Larissa die Schule, entweder eine Theaterklasse oder bilingualer Unterricht sollen es sein. Weil sie so gut Sprachen lernen kann. Dass sie aber nach einem anstrengenden Schultag nach Hause kommt und erst mal gar nichts mehr geht, das wird wohl so bleiben. Dass sie sich nicht gleich verabreden kann, sondern ausruhen muss. Dass sie keine hohen Schuhe tragen kann. "Dabei komme ich doch jetzt in ein Alter, in dem man sich für Mode interessiert", sagt Larissa.

Trotzdem sind ihre Chancen gut, ein ziemlich normales Leben zu führen. Das war nicht immer klar. Der Schlaganfall, der Menschen jeden Alters und sogar schon Babys vor der Geburt treffen kann, machte ihr anfangs viel schwerer zu schaffen als heute. Larissa kann sich selbst nicht mehr daran erinnern, aber etwa das Essenlernen war schwierig und sie hatte mit einem eingeschränkten Sichtfeld zu kämpfen.

Es hätte auch ganz anders kommen können

Beim Schlaganfall, einer plötzlichen Durchblutungsstörung im Gehirn, sterben durch die fehlende Sauerstoffversorgung Gehirnzellen ab - erst recht, wenn er unbemerkt und unbehandelt bleibt. Je nachdem, welches Areal wie stark betroffen ist, können sich die Betroffenen wieder gänzlich davon erholen, müssen manche Dinge neu erlernen - oder gewisse Körperfunktionen sind für immer verloren. Dass Larissa, deren rechte Körperhälfte betroffen ist, weil der Schlaganfall in der linken Gehirnhälfte aufgetreten ist, überhaupt noch sprechen kann und das auch noch ohne spürbare Einschränkungen, das ist schon wieder so ein Riesenglück. Denn in der linken Gehirnhälfte sitzt das Sprachzentrum.

Charity-Gala 'Rosenball 2016'

Hatte auch in vergleichsweise jungen Jahren einen Schlaganfall: Monica Lierhaus, gut erholt, am Samstag beim Rosenball in Berlin.

(Foto: dpa)

Genau wie das Glück, nicht im Rollstuhl zu sitzen - und den schweren Schlag überhaupt überlebt zu haben. Der Hirnschlag ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland, ein Fünftel der Schlaganfall-Patienten stirbt daran, etwa 270 000 Patienten erkranken pro Jahr. 37 Prozent sterben im Laufe des folgenden Jahres. Er ist die häufigste Ursache für mittlere und schwere Behinderungen. Mehr als 50 Prozent der Patienten sind 75 oder älter. Doch der Anteil der Jüngeren steigt.

Schlaganfall-Patienten werden immer jünger

"In den vergangenen Jahren haben wir eine bemerkenswerte, beispiellose Abnahme des Durchschnittsalters festgestellt", schrieb ein niederländisches Team der Uniklinik Nijmegen 2014 im Fachblatt Nature Reviews. Dass die Zahl vor allem in Schwellen- und Entwicklungsländern steige, erklären Experten mit der wachsenden Zahl junger Menschen, die dort an Übergewicht, Bluthochdruck und Diabetes leiden.

Der Schlaganfall bei Kindern kann dadurch allerdings nicht erklärt werden. Im Mutterleib kann das Kind weder übergewichtig sein noch einen nachlässigen Lebensstil pflegen. Von 300 Kindern pro Jahr, die in Deutschland einen Schlaganfall erleiden, gehen die Statistiken aus - die Dunkelzahl dürfte weit höher liegen. Weil der Schlaganfall beim Kind oft erst viel später diagnostiziert wird. Wenn überhaupt.

Schlaganfall-Hilfe plant Versorgungszentren für Kinder

An einen Schlaganfall denkt niemand bei einem Kind - auch viele Ärzte nicht, bis heute. Darum wünscht sich Marion Jager mehr Aufklärung, auch in den Kliniken.

Daran arbeitet gerade die Deutsche Schlaganfall-Hilfe. Geplant ist, in den kommenden Jahren zehn Kinderkliniken in ganz Deutschland zu spezialisierten Versorgungszentren auszubauen. "Ziel ist, dass kein schlaganfallbetroffenes Kind mehr als 200 km für eine optimale Versorgung reisen muss", sagt Mario Leisle, Sprecher der Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe, der Larissa für das Interview begeistert hat. "Sie wäre eine tolle Botschafterin für uns", freut er sich über ihre Offenheit.

Natürlich geht es nicht allen Kindern nach einem Schlaganfall so gut wie Larissa. Zu sehen war das an diesem Wochenende beim Rosenball in Berlin. Bertelsmann organisiert diese Charity-Gala alle zwei Jahre, um Spenden für die von Liz Mohn initiierte Schlaganfall-Hilfe für Kinder einzusammeln. Und zwischen Prominenenten wie Sylvie Meis und Verona Pooth waren deshalb an diesem Abend auch solche zu Gast, die nicht ganz so viel Glück hatten.

Charity-Gala 'Rosenball 2016'

Neckisch mit Rose im Mund beim Rosenball: Sylvie Meis auf der Charity-Gala zugunsten der Kinder-Schlaganfallhilfe in Berlin.

(Foto: dpa)

Kind mit Schlaganfall zwischen 600 Feiernden

Die 15-jährige Janina Becker konnte zwar ganz zauberhaft mit einer Tanzgruppe über die Bühne wirbeln, wird aber ihr Leben lang einen fast gelähmten Arm haben. Und die erst sechsjährige Fehmke hatte nach einer Hirntumor-OP im Jahr 2015 schon zwei Schlaganfälle und kann seitdem nur noch ganz langsam sprechen und laufen. Dass Janina und Fehmkes Mutter, dem einen Kind sieht man die Krankheit an, dem anderen nicht, hier mitten unter den prominenten Gästen auftraten, gehört zum Konzept - und zum Erfolg des Abends.

Laut Liz Mohn, der Grande Dame von Bertelsmann und Initiatorin des Abends, kam schon vor Beginn des Balls durch Spenden und Sponsoren eine Rekordsumme von fast einer halben Million Euro zusammen - die in die Schlaganfallhilfe für Kinder fließen soll. Damit die Larissas, Fehmkes und Janinas, die heute und morgen geboren werden, noch mehr Glück auch in der medizinischen Versorgung haben.

Am 10. Mai ist "Tag gegen den Schlaganfall" mit bundesweiten Aktionen. Infos auch über den kindlichen Schlaganfall, erste Anzeichen und die Deutsche Schlaganfall-Hilfe gibt es hier.

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