SZ: Herr Maelicke, Sie sind heute Resozialisierungsexperte. Dabei wären Sie selbst fast auf der schiefen Bahn gelandet. Wie kam es dazu?
Bernd Maelicke: Mein Vater starb 1945 im Krieg, meine Mutter war plötzlich allein mit zwei kleinen Kindern im zerbombten Berlin. Also kam ich als Sechsjähriger zu meinem Großvater und seiner zweiten Frau nach Göttingen. Aber die beiden alten Menschen blieben mir fremd, ich litt sehr unter der Trennung. Freunde fand ich auf der Straße. Als Zwölfjähriger gehörte ich zu einer Bande, die Überfälle machte. In der Schule wurde ich immer schlechter, meine Pflegeltern waren überfordert, schließlich schaltete sich das Jugendamt ein. Ich sollte in ein Fürsorgeheim in den Harz. Heute wissen wir, wie Kinder damals dort missbraucht und gebrochen wurden.
Was hat Sie gerettet?
Gerade noch rechtzeitig holte mich meine Mutter zu sich. Wir lebten als Flüchtlinge in einem Dorf am Bodensee, ich fand neue Freunde, kam aufs Gymnasium, wurde sogar Klassensprecher. Das war der Wendepunkt in meinem Leben. Die meisten Gefangenen, die ich später kennenlernte, haben ähnliche Biografien, haben auch eine lieblose Kindheit in einem sozial schwachen Milieu erlebt. Nur gab es in ihrem Leben keinen positiven Wendepunkt.
Sie haben ein Buch über den irrationalen Umgang mit Kriminalität in Deutschland geschrieben. Wieso irrational?
Das Gefängnis ist keine Lösung. Das belegen die seit Jahrzehnten konstant hohen Rückfallquoten. Im Knast wird nicht wirklich resozialisiert, im Gegenteil: Da gibt es Drogen und eine gewalttätige Subkultur, der sich keiner entziehen kann und die Häftlinge noch mehr kriminalisiert. Ein aktuelles Beispiel ist Charlie Hebdo: Die Attentäter wurden im Gefängnis radikalisiert. Zudem hat das Leben im Knast nichts mit dem Leben draußen zu tun. Die Häftlinge werden jeden Morgen geweckt, bekommen Vollpension, haben nur gleichgeschlechtliche Kontakte. Alles ist reglementiert, die totale Kontrolle. Was sie lernen, befähigt sie in erster Linie zum Überleben im Knast. Wenn sie entlassen werden, sollen sie dann plötzlich Verantwortung für ihr Leben übernehmen. Wie soll das funktionieren?
Sind Sie dafür, Gefängnisse ganz abzuschaffen?
Daran glaubte ich als Student in den 68ern, damals habe ich auch angefangen, als ehrenamtlicher Betreuer im Gefängnis zu arbeiten. Die Entlassungsgruppe in der Anstalt in Freiburg hat mich schnell davon abgebracht. Ich wollte mit den Gefangenen über die Abschaffung diskutieren, aber sie haben mich geerdet, haben gesagt, ich soll mit dem Quatsch aufhören. Wichtiger war ihnen, ihre Alltagsprobleme zu bewältigen. Ihre Schulden, ihre Drogensucht, ihr sozialer Status hatten sich im Gefängnis verschlimmert. Inzwischen weiß ich, dass es zahlreiche Häftlinge gibt, vor denen man zumindest zeitweise die Gesellschaft schützen muss.
Welche Häftlinge sind das Ihrer Meinung nach?
Bei Straftaten wie Organisierter Kriminalität, Mord, Vergewaltigung und anderen gefährlichen Straftaten hat das Gefängnis als letztes Mittel einen Sinn. Aber nahezu die Hälfte der Gefangenen in Deutschland sitzt eine Strafe unter einem Jahr ab. Das geht es überwiegend um Straftaten leichterer und mittlerer Deliktschwere. Das sind Kleinkriminelle, auch Warenhausdiebe und Schwarzfahrer. Sie bekommen zu Beginn ihrer "Karriere" nur eine Geld- oder Bewährungsstrafe. Aber weil sie Wiederholungstäter sind, eskaliert die Justiz und sie müssen ins Gefängnis.
Was soll stattdessen mit notorischen Einbrechern passieren? Muss man die Gesellschaft nicht auch vor ihnen schützen?
Doch, aber wir wissen, dass mit einer intensiven Einzelbetreuung die besten Erfolge erzielt werden können. Beispiel Kalifornien: Arnold Schwarzenegger hat die Zahl der Häftlinge extrem gesteigert. Aber je mehr Menschen er weggesperrt hat, umso höher wurde die Rückfallquote. Ambulante Maßnahmen wie die Bewährungshilfe und die Straffälligenhilfe freier Träger sind viel erfolgreicher. Sie müssen aber dringend personell und finanziell besser ausgestattet werden. In Deutschland fehlen 1000 Bewährungshelfer.