Reportage:Nachts um halb eins

Schmidt Theater feiert 30. Geburtstag

Seit er 15 Jahre alt ist moderiert Konrad Stöckel die Show.

(Foto: dpa Picture-Alliance / Georg Wendt)

Wie fühlt man sich auf der Bühne, wenn das Publikum besoffen ist? Die "Mitternachtsshow" führt Kleinkünstler an ihre Grenzen.

Von Thomas Hahn

Wenn der Zuschauerraum leer ist, ist die Bühne im Schmidt-Theater von St. Pauli ein Ort wie jeder andere. Das Licht ist an, der Vorhang ist auf, und der Komiker Konrad Stöckel sitzt entspannt auf dem Kulissen-Kanapee. Eine Stunde noch bis zur Mitternachtsshow, zu früh für Lampenfieber, die richtige Zeit, um über Zuschauer zu sprechen. Stöckel erzählt wie ein Veteran. "Du hast hier ja schon alles erlebt." Besoffene, die rumkrakeelt haben, Witzbolde, die nicht sitzen bleiben konnten. "Hier musst du auf Eventualitäten vorbereitet sein, die sonst nicht passieren können." Stöckel mag das, dieses Spiel mit der Wildheit der Unbekannten, diesen Belastungstest für seine Schlagfertigkeit.

Er ruft "Stimmuuung!" und wirft der ersten Reihe Konfetti ins Bier

Die "Mitternachtsshow" des privaten Schmidt-Theaters gehört zu den härtesten Prüfungen, die sich ein Showkünstler zumuten kann. Sie ist eine Marke innerhalb der bunten Welt des Schmidt-Varietés, die der Schauspieler und Regisseur Corny Littmann mit seinen Partnern vor etwas mehr als 30 Jahren erschuf. Die "Mitternachtsshow" mit ihrem wechselnden Programm aus Kleinkunst und Laienvorführungen gehörte von Anfang an zu den Attraktionen und lockte ein Publikum, das anders war als anderswo. Aus dem Partyvolk, das jede Samstagnacht über die Reeperbahn schwankt, verirren sich regelmäßig Berauschte und Vorlaute in die Vorstellung, können ihre Energie nicht zügeln und verwandeln das Publikum von einer wohlwollenden Menge in eine unberechenbare Gruppe. Viele Künstler haben sich hier ihre Bühnenhärte geholt, der Zauberer Marc Weide zum Beispiel. "Du möchtest einen Effekt zeigen, aber die Realität ist anders", hat er mal erzählt, "du kommst raus, und die erste Frau ruft, zieh dich aus, mein Junge." Stöckel nennt das "Herausforderung". Und der Comedian Benni Stark, Stöckels Mitmoderator, sagt: "Es ist eine gute Schule, um spontanes Agieren zu üben."

Der Künstler und sein Publikum. Die Beziehung ist eigentlich klar und trotzdem kompliziert. Künstler wollen etwas zeigen, Zuschauer etwas sehen. Aber Zuschauer wollen nicht immer sehen, was sie gezeigt bekommen, und Künstler nicht immer zeigen, was Zuschauer sehen wollen. Fragen des Anspruchs liegen manchmal wie eine Mauer zwischen denen auf der Bühne und denen im Zuschauerraum. Wenn sie sich nicht aufeinander einlassen, münden Aufführungen in Langeweile oder Eklats. Gute Bühnenkunst schafft den Spagat zwischen Unterhaltung und anspruchsvoller Erzählung, sie hängt ihr Publikum nicht ab mit abgehobenen Selbstinszenierungen. "Ohne Publikum wäre Theater bedeutungslos", predigt der große britische Regisseur Peter Brook seit vielen Jahrzehnten. Und auch wenn die "Mitternachtsshow" nicht gerade ein Festival für Feingeistige ist - an ihrem Publikum spielt sie nie vorbei. Auch nicht, wenn dieses etwas lauter ist. Jemand wie der Show-Routinier Stöckel, 40, interessiert sich sehr für die Zuschauer. "Auch wegen Kohle, wegen allem."

Um Mitternacht sind die letzten Aufführungen der Theater am Spielbudenplatz vorbei. Die Reeperbahn füllt sich mit Feiernden, die zwischen Buntlicht und Versuchung ihren Alltag vergessen. Die meisten zieht es in Clubs und Stripbars, und die Mitternachtsshow ist so etwas wie der letzte Kompromiss zwischen Kultur und Lärm.

Wenn der Zuschauerraum voll ist, ist die Bühne im Schmidt-Theater kein Ort wie jeder andere. Sie liegt wie ein erleuchtetes Ufer vor einem dunklen Meer aus Augenpaaren. Benni Stark betritt sie mit freundlicher Heiterkeit. Er wird gesehen, aber er sieht auch. So gut er kann im Eifer seiner ersten Gags, betrachtet er das Publikum, das gemischt ist. Alte Leute, junge Leute, studierte Leute, nicht so studierte Leute. In der ersten Reihe, auf welche die letzten Strahlen des Rampenlichts fallen, erkennt er drei Damen mit offenen Mienen, die eindeutig einen Spaß vertragen können. Alter und Single-Dasein. Schöne Vorlage für ein paar liebevolle Abfälligkeiten. Alles lacht, die Damen auch. "Sach doch kurz deinen Namen, Schatz", sagt Benni Stark. "Ute", antwortet eine der Damen. Benni Stark und sein Publikum sind jetzt Partner.

"Es ist interessant, in welche Richtung die Stimmung gehen kann, wenn man Leute von sich überzeugen muss", sagt Benni Stark. Die ersten fünf Minuten sind die wichtigsten. "In denen muss man entscheiden, was mache ich mit dem Publikum, gehe ich dagegen an, nehme ich es mit." Diesmal kann er es mitnehmen. Keine Zwischenrufe, kein Tourist, der im Suff eine Peepshow erwartet hatte. Stöckel schluckt einen Luftballon und füllt den Raum mit lautem Klamauk. Statt Pausen zu machen, ruft er: "Stimmuuung!" und wirft der ersten Reihe Konfetti ins Bier. Bei den Liedern singen die Leute mit. "Ihr seid wunderbar", ruft die Folklore-Sängerin Karla Feles. Die Einladung aufs Bühnen-Kanapee nimmt ein Trio aus zwei jungen Männern und einer Psychologiestudentin wahr, die aber wohl etwas zu beschwipst sind, als dass Stark und Stöckel sie richtig einbinden könnten in die Show.

Nach der Pause sitzt auf Utes Platz ein Herr. Ein Fest für Benni Stark: Hat Ute sich abgeschminkt? Allgemeiner Frohsinn. Und gegen Ende zeigt das Publikum sogar Zuhörerqualitäten, als der Comedian Thomas Schwieger von einem Buxtehuder Verliererleben erzählt. "Es gibt ein Wort, das mein Leben gut beschreibt: das Wort fast." Bedenkenswerter Satz. Im Grunde ein Wagnis für eine Nacht an der Reeperbahn.

"Ich persönlich hätte es gerne gehabt, wenn irgendwas passiert wäre", sagt Konrad Stöckel nach der Show. Es ist halb drei, Stöckel wirkt weder müde noch enttäuscht. Aber der Mythos der "Mitternachtsshow" lebt eben auch davon, dass sich ab und zu ein paar Kerle vom Junggesellenabschied aufspielen. Stöckel moderiert hier, seit er 15 ist. Seinen ersten Auftritt in der Show hatte er mit elf. Corny Littmann entdeckte ihn damals bei einer Zauber-Meisterschaft. Kaum ein Trick hatte geklappt - und genau dieses Scheitern wollte Littmann für die Mitternachtsshow.

"Bei einem gewissen Pegel ist es mit den feingeistigen Dingen eben ein bisschen schwieriger."

Seither kennt Stöckel dieses Spiel im Kiez. Wer nachts auf der Reeperbahn eine Bühne betritt, muss die Gesetze der frivolen Partymeile achten. Als seine Mutter den kleinen Konrad zu seinem ersten "Mitternachtsshow"-Auftritt brachte, wartete sie draußen und bekam prompt Ärger mit einer Prostituierten, weil sie auf deren Platz stand. Und drinnen verleugnete keiner den Geist der Amüsiermeile. Derb und klar muss die Kunst hier sein. "Nachts um zwei Uhr bei einem gewissen Pegel ist es mit den feingeistigen Dingen eben ein bisschen schwieriger", sagt Stöckel.

Er hat ein Repertoire an Sprüchen, mit denen er Zwischenrufer kontert. "Das ist hier keine Waldorfschule zum Mitdiskutieren", solche Sachen. Ansonsten vertraut er auf seinen geschulten Instinkt als Klamaukprofi. Ruhe bewahren, mit der Situation spielen - das hat ihn die Mitternachtsshow gelehrt. Und Konrad Stöckel zeigt gern, dass sein Humor auch vor Besoffenen bestehen kann.

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