Reportage:Immer im Zelt schlafen

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Weil in Afghanistan Krieg ist, musste sie fliehen. Jetzt wartet sie - seit einem Jahr. Hier erzählt Helia, 10, von ihrem Alltag im Flüchtlingscamp.

Protokoll: Georg Cadeggianini und Fatima Fayazi

"Bald habe ich Geburtstag, mein elfter. Dann ist es schon mehr als ein Jahr her, dass wir hier auf Samos angekommen sind. An meinen zehnten erinnere ich mich noch ganz genau. Die vielen bunten Luftballons in unserem Zelt damals. Mein Lieblingskuchen, von meiner Mutter irgendwo bei Freunden gebacken. Wir haben gesungen, getanzt, gelacht. Freunde und Familie waren da. Damals haben wir noch im Dschungel gelebt. So nennt man hier den Bereich jenseits des Camps. Der ganze Hang ist voll mit Zelten und Planen zwischen den Olivenbäumen. Im Dschungel gibt es keinen Strom und noch weniger Platz für Gäste als im Camp. Nur das eigene Zelt, ein paar Schritte in jede Richtung, und sobald es regnet, ist alles vermatscht, klebt und stinkt. Trotzdem: Die Geburtstagsfeier war cool. Es hat Spaß gemacht.

Die Tage hier im Camp wiederholen sich. Ich wache auf vom Lärm. Babys, die schreien. Jemand, der sein Zelt repariert. Irgendwas ist immer los. Noch vor dem Frühstück drehe ich eine Runde, schaue, wer schon wach ist, was wir nachher spielen. Neulich haben wir einen Tanz einstudiert. Das mochte ich total gern. Ich versuche ein bisschen Griechisch zu lernen und Englisch. Hauptsächlich wiederhole ich die Stunden, die wir hatten, bevor das Camp wegen Corona unter Quarantäne gestellt wurde. Manchmal daddeln wir auch auf dem Telefon von meinem Vater. Ich liebe zeichnen. Aber wir haben zu wenige Farben hier, keinen Tisch. Das ist anstrengend. Manchmal tut mir mein Nacken weh vom verkrampften Dasitzen. Wenn ich im Camp allein unterwegs bin, darf ich nur ein paar Nachbarn weiter. Sonst gehe ich vielleicht verloren, sagt meine Mama. In unserem Container leben 15 Familien, jede in einem eigenen Zelt. Wir haben ein Klo und ein Bad. Sobald man mehr als zwei Wasserkocher einsteckt, fliegt die Sicherung raus.

Mein Zuhause vermisse ich sehr. Den Komfort, den wir hatten. Den Frieden, den wir hatten. Und ein Haus, ganz für uns alleine. Wir konnten überall hingehen. Wir hatten alles, was wir wollten, damals in Iran. Ich bin dort zur Schule gegangen, erste und zweite Klasse, bei einer wahnsinnig freundlichen Lehrerin. Ich liebe sie. Aber meine Eltern kommen aus Afghanistan, das liegt gleich neben Iran. Und vor zwei Jahren wurden unsere Ausweispapiere in Iran nicht erneuert. Wir mussten Iran verlassen. Also sind wir nach Afghanistan gezogen. Aber dort war Krieg. Da war kein Platz zum Leben. Und mein Vater wurde bedroht. Er hat Probleme, sagte meine Mama, nur Wochen nachdem wir dort angekommen waren. Das Leben von uns allen sei in Gefahr. Wieder mussten wir weg. Wir sind aufgebrochen nach Europa. Einen Rucksack voll dabei, bisschen Wäsche, Waschzeug.

Das Leben im Camp kann sehr schwierig sein. Wenn das fließende Wasser mal wieder abgedreht ist zum Beispiel. Manchmal haben wir mehrere Tage hintereinander nicht genügend Wasser. Überall liegt Müll. Es stinkt. Bekannte und Freunde, die immer noch im Dschungel leben, haben keinen Strom. Sie kommen zu uns, um ihr Telefon zu laden. Ich hätte so gern einen eigenen Raum. Nur für mich und meine Spielzeuge. Wie in den Filmen, die wir auf Papas Handy schauen.

Mit meiner Mutter gehe ich manchmal in die Stadt. In einige Geschäfte dürfen wir nicht mit rein. Da sind geflüchtete Kinder verboten. Manche Geschäfte verbieten auch, dass überhaupt irgendein Geflüchteter ins Geschäft kommt. Ich weiß nicht, warum. Als ich einmal mit meiner Familie in der Stadt war, trafen wir auf eine alte Frau aus dem Ort dort. Als wir an ihr vorbeigingen, brüllte sie uns an, wir sollten zurückgehen, wo wir herkommen. Ich bin sehr erschrocken. Ich dachte: Alte Menschen sind freundlich. Einmal kam uns eine Mutter mit einem Kind in meinem Alter entgegen. Als wir fast auf selber Höhe waren, zog sie ihr Kind weg. Ich weiß nicht, was sie von uns denken. Meine Mutter sagt, in jeder Gesellschaft gibt es viele gute Menschen und ein paar, die nicht gut sind. Ich will ein guter Mensch sein. Wo werde ich meinen elften Geburtstag feiern? Wo meinen zwölften?"

© SZ vom 17.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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