Süddeutsche Zeitung

Reportage:Der verlorene Sohn

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Ein junger Deutscher will als Rettungsschwimmer an der Küste von Lesbos Geflüchteten helfen und wird verhaftet. Seine Mutter reist ihm nach.

Von Franziska Grillmeier

Erst klingelt es leise. Dann bricht der Ton immer lauter durch das Summen des Mixers. Fanny Binder dreht sich zur Jacke um, die hinter ihr an der Wand hängt. Rote-Bete-Saft tropft von ihrem Kochlöffel auf den Steinboden des griechischen Biogeschäftes, in dem sie gerade ihren ersten veganen Kochkurs gibt. Es hört auf zu klingeln. "Oh shit", sagt sie leise.

Die Teilnehmer des Kochkurses, die in einem Stuhlkreis um den Holztisch versammelt sind, haben nichts gemerkt. Nur eine ältere Dame kommentiert, es passiere ihr auch ständig, dass ihr Telefon unkontrolliert klingelt. Binder hat ihr Telefon seit drei Monaten nicht mehr lautlos gestellt. Sie legt es sogar beim Duschen auf den Waschbeckenrand. Jeden Moment könnte ihr Sohn Sean aus dem Gefängnis anrufen. Zurückrufen kann sie nicht, die Nummer ist unterdrückt. Jeder verpasste Anruf lässt sie mit Fragen zurück.

Seit 103 Tagen ist Sean Binder an diesem Tag im Gefängnis. Und Fanny seit drei Monaten auf den Ägäischen Inseln. Der 24-jährige deutsche Rettungsschwimmer wurde am 21. August 2018 auf der Insel Lesbos festgenommen, nachdem er seiner Kollegin Sarah Mardini zu Hilfe geeilt war. Die Syrerin, die 2015 zusammen mit ihrer Schwester Yusra ein Rettungsboot mit 18 weiteren Geflüchteten schwimmend an Land gezogen hatte, war morgens am Flughafen von Mytilini verhaftet worden. Sean Binder dachte, er könne helfen, die Situation aufzuklären, eilte zur Polizeistation - und wurde gleich selbst verhaftet.

Die Vorwürfe wiegen schwer: Menschenschmuggel, Bereicherung durch Spenden, Geldwäsche, Spionage, Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Wie Mardini war auch er Ersthelfer bei Such- und Rettungsaktionen der Hilfsorganisation Emergency Response Center International (ERCI). Seine Anwälte, Freunde und andere humanitäre Helfer auf Lesbos sind sich einig: Binders Fall sei ein weiterer Schauprozess zur Kriminalisierung von freiwilligen Helfern, wie sie im vergangenen Jahr auch in Italien oder Malta geführt wurden. Laut Anklageschrift könnte Binder für bis zu 25 Jahre in Haft kommen.

Diese Vorstellung lähmt seine Mutter jeden Tag. Täglich sieht sich die 49-Jährige nach Seans Verhaftung mit ihrer eigenen Ohnmacht konfrontiert. Und mit dem Gefühl, in Europa nicht mehr sicher zu sein.

Im März 2018, zwei Jahre nach Abschluss des EU-Türkei-Abkommens, das die Ägäischen Inseln zur Pufferzone Europas gemacht hat, besuchte Binder ihren Sohn zum ersten Mal auf der Insel. "Ich dachte, er schläft über seiner Müslischüssel ein, so müde war er", sagt sie. "Sean hat in dieser Arbeit etwas gefunden, dem er sich vollkommen hingeben konnte." Bei einem Sojalatte sitzt sie in einem Café in der Hafenstadt Mytilini. Ihr Handy liegt zwischen ihren Händen und der Tasse auf dem Tisch. Wenn Fanny erzählt, lacht sie viel. Manchmal tränen ihre Augen. Sie weiß selbst nicht immer, ob vor Lachen oder weil die eigene Machtlosigkeit so schmerzt.

Zum Zeitpunkt seiner Verhaftung ist Sean Binder seit einem Jahr als freiwilliger Helfer auf Lesbos. Nach dem Masterstudium der Internationalen Beziehungen in London will er Erfahrung im humanitären Bereich sammeln. Er entschließt sich, auf Lesbos zu volontieren, in Moria, dort, wo seit dem EU-Türkei-Abkommen mehr als 5000 Flüchtlinge festsitzen. Das durch Stacheldraht umzäunte Lager wurde zum europäischen "Hotspot" ernannt, einer Art Auffanglager. Die Menschen leben in Containern, dünnen Zelten und unter Plastikplanen. Mehr als tausend weitere, darunter viele Kinder, schlafen zwischen den angrenzenden Olivenhainen. Offiziell haben auf dem ehemaligen Militärgelände nur 2300 Menschen Platz.

Ziel des EU-Türkei-Deals ist es, die Flüchtlinge an Europas Außengrenze zu stoppen. Die EU zahlt (bislang sechs Milliarden Euro), die Türkei hat sich im Gegenzug verpflichtet, die eigene Grenze besser zu sichern und von Griechenland abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen. Die Zahl der Flüchtlinge ist seitdem stark gesunken. Trotzdem kommen jede Woche noch immer Hunderte Menschen auf die Ägäischen Inseln. Zurückgeführt in die Türkei wurden in den vergangenen drei Jahren nur etwa 1800 Menschen.

In Griechenland ist die Migrationskrise längst zur Organisationskrise geworden. Einige Flüchtlinge warten seit mehr als zwei Jahren auf die Entscheidung, ob sie weiter auf das griechische Festland dürfen. Sparmaßnahmen hätten zu drastischen Kürzungen im öffentlichen Dienst geführt, begründet das griechische Migrationsministerium die lange Verfahrensdauer.

Sean ist einer von vielen Freiwilligen, die versuchen, die Lücken im Versorgungssystem zu füllen. Doch das wird nicht von allen gerne gesehen. Immer häufiger geraten private Helfer ins Fadenkreuz der Behörden. Der Vorwurf: Sie würden den Flüchtenden die Überfahrt nach Europa erleichtern. Sechs Monate vor Binders Verhaftung etwa stehen drei spanische Feuerwehrleute wegen Menschenschmuggels in Lesbos vor Gericht, sie hatten als Seenotretter gearbeitet. Gleichzeitig geht das Sterben weiter: Allein im Januar dieses Jahres ertranken nach Schätzung des UNHCR 185 Menschen im Mittelmeer. Trotzdem wird immer mehr privaten Rettungsschiffen auf dem Mittelmeer die Flagge entzogen. Und an Land werden die Flüchtlingslager in der Türkei und in Libyen zu "Black Boxes", in die keiner mehr hineinblicken kann. Und soll.

Als Sean Binder im August 2018 verhaftet wird, glauben Mutter und Sohn zunächst an einen Irrtum, der sich schnell aufklären wird. Nach drei Tagen dämmert der Mutter, dass dem vielleicht doch nicht so ist. Fanny Binder packt ihre Sachen und bucht einen Flug nach Mytilini. "Es half nichts", sagt sie, "ich musste einfach zu meinem Kind." Ihr Haus im irischen Cork, wo sie inzwischen wohnt, lässt sie hinter sich. Ebenso ihren Mann, ihre Arbeit im Naturkostladen und die Hoffnung, dass alles nur ein Missverständnis ist.

Zwei Wochen später läuft Binder den Hügel zur Polizeistation hoch. An ihrem Arm hängt ein Sixpack Wasser, eine Flickendecke liegt zusammengerollt auf einer Tüte mit Klopapier. Der Schweiß steht ihr auf der Stirn. Ihre Hand umschließt ihr Smartphone wie eine Hantel. Ihr Leben ist jetzt in Besuchertage geordnet: Montag, Mittwoch, Freitag. In den Tagen dazwischen geht sie einkaufen. Wasser, Klamotten und Toilettenpapier für Sean. Am Wochenende bleibt sie meistens in der Wohnung. Einen Orangensaft in einem der vielen Cafés zu trinken, bringt sie nicht übers Herz. Nicht, solange ihr Sohn nur Wasser bekommt.

Duschen dürfen die Insassen auf der Polizeistation nur alle zwei Tage. Essen kann einmal am Tag von draußen bestellt werden - wobei ein Pita-Brot und zwei Souvláki-Spieße für Mittag- und Abendessen reichen müssen. Die Nächte dringen immer kälter durch die glaslosen Gitterfenster.

Binder reicht Decke, Klopapier und Wasser an die Polizisten weiter, setzt sich hinter ein dreckiges Plastikglas und hebt den Telefonhörer ab. Auf der anderen Seite sitzt Sean. Sie sprechen über alles, außer das Gefühl, nicht zu wissen, wie lange das alles dauern wird. Von einer Woche bis 18 Monate ist alles drin. So lange dürfen sie ihn höchstens in U-Haft behalten.

Meistens unterhalten sie sich auf Schwäbisch, damit keiner ihre sarkastischen Witze verstehen kann (zum Beispiel wenn sie überlegen, was sie denn mit den Millionen anstellen könnten, die Sean gewaschen haben soll), und weil der Klang der Heimat Mutter und Sohn irgendwie hoffen lässt, dass alles gut wird. Weil bislang immer alles gut geworden ist, auch wenn es nicht immer leicht war. Sean ist das einzige Kind von Fanny Binder. Als sie schwanger wurde, war sie noch in der Ausbildung zur Stahlgraveurin in Pforzheim. Ihr Freund kam als Flüchtling aus Vietnam. Sie trennten sich kurz vor der Geburt. Sean zog sie alleine groß. Es gab Zeiten, da wusste sie nicht, wie sie am Monatsende den Kühlschrank füllen sollte. "Irgendwie ging's", sagt sie knapp, "ich hatte immer Glück."

Als die Mutter ihren Sohn zum zweiten Mal in der Polizeistation besucht, sagt Sean, sie solle sich keine Sorgen machen. Ihr Leben in Irland nicht aufgeben. Er schaffe das. Binder nickt. An jedem Besuchstag läuft sie den Hügel hoch.

Nach einigen Tagen verliert der Sohn zum ersten Mal die Fassung. Warum sie ihn hier so lange festhalten, sie müssten doch jetzt begriffen haben, dass sie falsch liegen. "Zu dem Zeitpunkt hat seine Welt einen Knacks bekommen", sagt seine Mutter. Seans Vorstellung von Recht und Unrecht gerät ins Wanken. "Wenn er wirklich etwas Verbotenes angestellt hätte, könnte man wenigstens sagen: War gut gemeint, ging aber nach hinten los. Aber jetzt sitzt er im Gefängnis, weil er anderen Menschen geholfen hat."

Der griechische Staat sieht das anders. Bereits im Februar 2018 geraten Sean Binder und Sarah Mardini zum ersten Mal ins Visier der Polizei. Mit dem Auto sind sie unterwegs in das Auffanglager von Moria. Bei einer Fahrzeugkontrolle finden die Polizisten ein zweites, militärisches Kennzeichen unter dem griechischen Nummernschild. Sie beschlagnahmen Handys und Laptops der beiden Helfer und nehmen sie mit auf die Polizeistation. Haben Binder und Mardini etwas falsch gemacht? Sie haben das Auto weder gekauft noch angemeldet - Binder hat es nur gefahren. Alles andere unterliegt der Verantwortung von Panos Moraitis, dem Gründer von ERCI. Nach 48 Stunden kommen Binder und Mardini wieder frei.

In den folgenden Monaten hören weder die Führung von ERCI noch Mardini oder Binder etwas von der Polizei. Erst nach der Verhaftung von Binder und Mardini im August erklären die Ermittler in einem ungewöhnlich langen Statement: Die Verdächtigen, zu denen auch Moraitis zählt, hätten sich mit verschlüsselten Whatsapp-Nachrichten über die Migrationsrouten im Mittelmeer verständigt und den Funkverkehr der Küstenwache abgehört, um Menschen illegal nach Griechenland zu bringen.

Auf diesen Vorwurf antwortet Moraitis am Telefon, dass die Organisation von Anfang an mit der Küstenwache und der Europäischen Grenzbehörde Frontex zusammengearbeitet hätte. Die griechische Polizei habe "zufällige Ereignisse" miteinander verknüpft und daraus "unhaltbare Schlüsse" gezogen. Am nächsten Tag stellt er sich selbst der Polizei.

Auch Binder bestreitet die Vorwürfe. An vielen der Tage, an denen die Polizei ihm Menschenschmuggel nachweisen will, war er gar nicht auf Lesbos. Zeugen und Flugtickets belegen: Er war bei einer Abschlussfeier in London und hatte in Irland seine Oma besucht, die kurz darauf verstarb.

Nach drei Wochen auf der Polizeistation wird Binder auf der Fähre in das nächstgelegene Männergefängnis auf der Nachbarinsel Chios gebracht. Die Überfahrt dauert sechs Stunden. Ihren Sohn in Handschellen auf die Fähre gehen zu sehen, treibt Fanny Binder "den Wahnsinn ins Herz". Wieder zieht sie ihrem Sohn hinterher.

Eine Woche später steht sie zwischen Kichererbsendosen und Gaskochplatten in einer Gemeinschaftsküche, die jeden Tag für 200 Menschen im Lager von Chios kocht. "Ich muss irgendwas tun", sagt sie und bindet sich ihr Halstuch um den Kopf. Ihre Hände finden schnell Messer und Tomaten. Sie wird still, während die anderen Freiwilligen lauter werden, syrischen Kaffee mit Kardamom aufkochen, Bob Dylan aufdrehen. Auf ihrem Arm sind blaue Flecken und Schürfwunden zu sehen. Am Morgen ist sie in der Dusche ausgerutscht. "Das Telefon hat geklingelt", sagt sie. Ein tiefes Lachen kommt aus ihrer Brust, dann schüttelt sie den Kopf. "Irgendwann muss das alles hier vorbei sein." Dann, da ist sie sich sicher, wird sich auch ihr Leben in Irland verändern. Wie genau, weiß sie noch nicht. Doch was sie in den letzten Monaten erlebt hat, die Zustände in den überfüllten Lagern ebenso wie die Solidarität unter den Helfern, lässt sie nicht mehr los. "Faltencremes", sagt sie, "verkaufe ich jedenfalls nie wieder".

Am 13. Dezember 2018 steht Fanny Binder vor dem Spiegel in ihrem Appartement. Sie macht sich gerade fertig für eine weitere Schicht in der Solidaritätsküche, als ihr Telefon klingelt. Sean. Gegen jeweils 5000 Euro Kaution kämen er und Sarah Mardini frei bis zum Gerichtstermin. Binder geht vor dem Waschbecken in die Knie und übergibt sich in die Toilette.

Eine Stunde später steht sie vor ihrem Sohn. In seiner linken Hand trägt er die Flickendecke, die sie ihm in seiner zweiten Gefängniswoche gebracht hat. Sie macht noch ein Bild, dann lässt sie ihr Handy einfach fallen und umarmt nach dreieinhalb Monaten ihren Sohn.

Im Bioladen gibt Fanny Binder noch einen letzten Kochkurs, bevor sie mit Sean zurück nach Irland fliegt. Seitdem warten sie auf seinen Gerichtstermin. Sie hoffen, dass die Anklage aufgrund der dünnen Beweislage fallen gelassen wird. Doch falls es zur Verhandlung kommt, will Sean Binder nach Lesbos reisen, um seine Unschuld zu beweisen.

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Quelle:
SZ vom 13.04.2019
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