Süddeutsche Zeitung

Reportage:Abschaffung des Zufalls

Lesezeit: 3 min

Nachdem Amazon große Teile des Handels zerstört hat, eröffnet der Konzern Buchläden. Ein Besuch in Manhattan.

Von David Pfeifer

Der Amazon Bookstore auf der 34. Straße in New York wirkt gruselig in seiner perfektionierten Gefälligkeit. Das übliche "Hellohowareyoucanihelpyouwithsomething?" beim Eintreten, da meint der durchschnittliche Mitteleuropäer hinter der Freundlichkeit schon das eisige Lächeln des Turbokapitalismus zu erkennen. Immerhin hat Amazon den Buchhändlern die Luft abgeschnürt, nur um jetzt deren Geschäft zu betreiben. Böse. Doch der Argwohn sagt vielleicht mehr über den durchschnittlichen Mitteleuropäer aus als über US-Amerikaner oder gar Amazon. Denn eigentlich ist im Laden alles sehr warm und freundlich. Obwohl das Empire State Building auf der anderen Straßenseite in die Höhe ragt, fällt das Licht warm von außen herein.

Überall in den hellhölzernen Regalen stehen ansprechende Buchtitel. Viele handeln vom Essen und Kochen, ansonsten gibt es eine Menge Schicksalhaftes. Reese Witherspoon berichtet beispielsweise unter dem Titel "Whiskey in a Teacup" über ihre Jugend in den Südstaaten (inklusive Plätzchenrezepten). Die Autobiografie der unehelichen Tochter von Steve Jobs steht an einem prominenten Platz. Unter den Top-Sellern, die einen schon im Eingangsbereich ins Auge springen, ist die Lebensgeschichte des Rappers Gucci Mane, der wegen Drogenhandels im Gefängnis saß, einen Menschen ermordet hat und heute Platin-Alben herausbringt. Daneben ein Kochbuch ("Cravings", in etwa mit "Gelüste" zu übersetzen) von Chrissy Teigen, einem Model, das in den USA sehr bekannt ist. Es folgt ein Cartoon-Buch, das Kindern die Welt der Erwachsenen erklärt ("Adulthood is a Myth"), eine Flüchtlingsgeschichte, ein sozialkritischer Roman über Bandenkriminalität. Es könnte die Auswahl eines Buchhändlers mit einem sehr seltsamen Geschmack sein. Es sind aber die Titel, die auf Amazon mit 4,8 oder mehr Sternen gekürt wurden.

Menschen mögen, was andere Menschen mögen. Vor allem, wenn sie nichts anderes kennen

Und hier klebt der Grusel dann doch das erste Mal an den Buchrücken, denn es ist die physische Manifestation einer Mechanik, die ebenso verführerisch wie schrecklich wirkt. Einer Mechanik, nach deren Logik man heute weder Franz Kafka noch Hannah Arendt kennen würde, hätte es Amazon zu deren Zeiten schon gegeben. Franz Kafka hat zeitlebens kaum mehr als ein paar Hundert seiner Bücher verkauft. Und Werke wie "Moby Dick" oder "Hundert Jahre Einsamkeit" beispielsweise werden, wenn man auf der Amazon-Seite dazu Rezensionen liest, gerne als langatmig wahrgenommen und bekommen also durchaus schlechte Bewertungen. Vielleicht auch nur, weil die Lieferung verspätet war. Aber für 4,8 Sterne reicht es dann halt nicht mehr.

Nun muss man nicht gleich den Untergang des Abendlandes ausrufen, nur weil eines der reichsten Unternehmen der Welt sich in der Verkleidung eines Buchladens an der massenhaften Verbreitung von Gebrauchsliteratur versucht. Auch in Deutschland verkaufen sich vor allem jene Bücher gut, die in den Kaufhäusern auf den Stapeln liegen, wo die sogenannte Mitnehmware aufgeschichtet wird. Das ist dann auch nicht "Moby Dick" oder Hannah Arendt. Und die wirklich individuell geführten Buchläden, so sieht es zumindest im Jahr 2018 aus, sind ja weiter beliebt. Amazon hat eher die Ketten geschädigt. Andererseits scheint der Großkonzern an der Abschaffung der Serendipität zu arbeiten, also der zufälligen Entdeckung von etwas Unerwartetem. Denn bei Amazon bekommt man immer nur die Dinge angeboten, die dem bisherigen Rezeptionsverhalten entsprechen, während ein Buchhändler üblicherweise einen eigenen Geschmack hat.

Nun sehen sich die Innenstädte in den USA, aber auch in Deutschland und eigentlich fast auf der ganzen Welt zusehends ähnlich. Überall ein Apple-Shop, ein Starbucks, ein H&M. Also das, was für den Massengeschmack optimiert wurde, weil sich die Luxuslagen nur noch leisten kann, wer hohe Umsätze macht. Und hohe Umsätze sind der Feind des individuellen Angebots. Alles, was gut läuft, wird nach vorne geschoben, das Spezielle verschwindet.

Natürlich stellt man sich im Amazon Bookstore irgendwann die Frage, wer der Kafka von heute ist, dem Amazon die Luft abschnürt. Dabei stromert man an den Regalen vorbei, findet vieles interessant, weil sich der Geschmack des durchschnittlich interessierten Mitteleuropäers vom durchschnittlich interessierten US-Amerikaner doch nicht so sehr unterscheidet. Nach wenigen Minuten wirkt das alles wie in "Matrix", so als würden zwischen den Buchreihen Zahlenkolonnen herunterrauschen, der Algorithmus, der die Wünsche der Verbraucher so erschreckend gut kennt.

Dann materialisiert sich wieder ein Verkäufer, wahnsinnig freundlich, dunkle Locken. Man will von ihm wissen, ob er persönlich etwas empfehlen kann, nur so als Turing-Test für den Freizeitanthropologen. "We can order everything you want", sagt er. Anstatt die Frage zu beantworten, stellt die Menschmaschine eine Gegenfrage. Sie will nicht beraten, nur Daten sammeln, Vorlieben ergründen, um den Laden weiter zu optimieren. Er ist schön, dieser Amazon Bookstore, es gibt bereits einige davon in den USA. Doch irgendwann werden dort weltweit die gleichen Bücher stehen, sie werden in die gleichen Tragetaschen gesteckt und bei einem Starbucks-Kaffee gelesen werden. Das wird sich nicht schlimm anfühlen, es könnte sogar ganz angenehm werden. Wäre da nur nicht die Sorge, etwas zu verpassen. Etwas, von dem man nicht mal ahnt, dass es existiert.

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Quelle:
SZ vom 17.11.2018
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