Kolumne: Vor Gericht:Bibliotheksgespenster

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Pauken bis zum Anschlag: Studierende in der Bayerischen Staatsbibliothek in München. (Foto: Stephan Rumpf)

Vom Dreiecksbetrug bis zu den europäischen Verträgen: Unser Kolumnist fragt sich, warum in Deutschland Jura-Studierende beim Staatsexamen mit so viel Lernstoff gequält werden.

Von Ronen Steinke

Einmal habe ich bei Gericht erlebt, wie eine Staatsanwältin zu einem jungen Angeklagten sagte: „Jetzt reißen Sie sich mal zusammen, in Ihrem Alter hatte ich schon zwei Staatsexamina.“ Ohne erkennbares Verständnis dafür, dass andere Menschen vielleicht noch ganz andere Päckchen zu tragen gehabt haben als sie selbst. Wahrscheinlich sind wir Menschen so: Ich war hart zu mir selbst, also habe ich mir das Recht erworben, auch hart zu anderen zu sein. So ein Gefühl kann aufkommen, wenn man über einen längeren Zeitraum selbst eher wenig Mitgefühl erlebt hat.

Daran muss ich öfter denken, wenn in Deutschland über die recht rabiate Ausgestaltung des juristischen Staatsexamens diskutiert wird. Das erste Staatsexamen, muss man dazu wissen, saust am Ende eines Jurastudiums auf die Studierenden herab wie ein Fallbeil. Wer durchfällt in einem zweiwöchigen Klausurenmarathon, steht oft mit leeren Händen da. Ohne Abschluss. Ein einziges Mal darf man wiederholen, dann ist Schluss. Ich erinnere mich, wie sich in meiner Examenszeit deshalb fröhliche, selbstbewusste Menschen in Bibliotheksgespenster verwandelt haben, die sich aus allen sozialen Zusammenhängen zurückzogen. Ein Jahr lang. Ein Kommilitone entwickelte Haarausfall, mehrere begaben sich wegen Depressionen in Behandlung, Beziehungen gingen zu Bruch.

Das Jura-Examen ist wahrscheinlich nicht härter als das Medizin-Examen, und überhaupt haben Menschen, die auf anderen Lebenswegen unterwegs sind, auf ihre Weise noch ganz andere Prüfungen zu bestehen. Und doch sollte man darüber reden, weil diese Zeit so sehr prägend ist für die Lebensgeschichte von Menschen, die später als Richterinnen oder Anwälte Verantwortung tragen. Es ist eine Erfahrung, die auch mit allerlei Ungerechtigkeiten verbunden ist: Die Studierenden, die für ihren Lebensunterhalt noch jobben müssen, haben während des Examensbüffeljahres einen handfesten Nachteil. Zumal die sogenannten Repetitorien eine große Rolle spielen. Das sind private Nachhilfe-Institute, die von der Prüfungsangst sehr gut leben.

Es ist vor allem unnötig. In Deutschland wird den Studierenden eine enorme Breite des Rechts als Pflichtstoff abverlangt, vom Dreiecksbetrug über europäische Verträge bis hin zum Leasingvertragsrecht. Eine Stoffmenge, die über die Jahrzehnte immer weiter anwächst und immer neue psychische Überlastungen auslöst. Länder wie Großbritannien oder Frankreich beschränken sich stattdessen auf eine kleinere, exemplarische Auswahl an Rechtsgebieten.

Dass es einen psychologischen Effekt hat, sich ein Jahr lang derart drillen zu lassen, nach Art eines Initiationsritus, scheint mir indes einzuleuchten. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb die Grundausbildung beim Militär oft absichtlich ruppig gestaltet wird. Es ist charakterbildend. Aber im Falle von uns deutschen Juristen würde ich sagen: nicht unbedingt zum Guten.

In dieser Serie schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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