Süddeutsche Zeitung

Rentenalter:Mit voller Kraft im Leerlauf?

Aus "unwürdigen Greisen" sind rüstige Rentner geworden - doch altert jeder individuell. Aus biologischer Sicht ist das Rentenalter ein willkürlicher Trennungsstrich.

Werner Bartens

Bäume können maximal 120 Meter hoch werden. Die Schwerkraft hindert die Flüssigkeit daran, weiter nach oben zu steigen und die Äste und Blätter dort zu versorgen. Ein Baum von 150 Metern Länge wäre nicht überlebensfähig, ihm ginge der Saft aus. Menschen können etwa 120 Jahre alt werden, dann geht auch ihnen der Saft aus, wenn man das so nennen will.

Der bisher älteste Mensch der Welt war die Französin Jeanne Calment. Sie starb 1997 und hatte in ihrer Jugend noch Vincent van Gogh kennengelernt. Mit 122 Jahren, fünf Monaten und 14 Tagen ist sie die offizielle Rekordhalterin; ihre Geburt 1875 ist amtlich dokumentiert.

Warum manche Menschen alt werden und andere früh sterben, können Wissenschaftler nicht genau sagen. Ebenso wenig ist bekannt, warum manche Menschen mit 65 Jahren einen Marathon bewältigen, andere hingegen kaum die Treppe ins nächste Stockwerk schaffen.

Gene, Stoffwechsel und Enzyme spielen eine Rolle, lange Telomere, wie die Chromosomen-Enden genannt werden, sprechen für die Chance auf ein hohes Alter. Genauso wichtig sind aber Umweltfaktoren, Speiseplan und Lebensführung.

Aus medizinischer Sicht ist es daher ein willkürlicher Trennstrich, das Arbeitsleben mit 55, 65 oder 70 Jahren zu beenden, auch wenn die Leistungskraft immer länger auf hohem Niveau bestehen bleibt.

"Die 75-Jährigen heute sind wahrscheinlich so leistungsfähig wie die 65-Jährigen vor 30 Jahren", sagt Martin Halle, Direktor des Zentrums für Prävention und Sportmedizin der TU München. "Das macht bestimmt zehn Jahre aus."

Andererseits gäbe es aber auch genügend Gründe, die Erwerbstätigkeit schon früh einzustellen. Die Augenlinse kann nie so scharf gestellt werden wie im Alter von 16, 18 Jahren - sollten Elektriker, Mikrochirurgen und Kosmetikerinnen dann umschulen? Muskelkraft und Ausdauer gehen spätestens ab 35 rapide nach unten, Herz und Kreislauf können mit 20 am stärksten belastet werden.

Die tägliche Filterleistung der Nierenkanälchen, die Sauerstoffaufnahme der Lungen, die Elastizität der Venenklappen - alles wird in dem Alter schlechter, in dem die meisten Menschen gerade erst ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Die Produktionskraft der Industrieländer beruht auf Arbeitskräften, die vom Verfall gezeichnet sind.

Sport und Entspannung

Sport und entspannte Lebensführung verhindern, dass man vorzeitig altert. "Durch Sport bleiben die Telomere länger lang, Stress verkürzt sie", sagt Martin Halle. Warum Alterungsprozesse unterschiedlich schnell ablaufen, ist für die Wissenschaft noch ein Rätsel. Die Medizin hat sich daher auf die Beschreibung verlegt. Wird ein Patient untersucht, zielt der erste Punkt der Krankenakte darauf ab, ob der "altersgemäße Allgemein- und Ernährungszustand" vorliegt. Ist das nicht der Fall, gilt der Patient als "vorgealtert" oder er wird anerkennend als "biologisch jünger" bewertet.

Die Ärzte gehen dabei nicht nach dem äußeren Anschein vor. Mancher Mittfünfziger mag zwar passabel aussehen, wird von den Medizinern aber womöglich wenig mitfühlend als "Gefäßwrack" eingestuft, weil seine Koronarien schwer verkalkt und die Hirnschlagadern kaum durchblutet sind. Das Patient sieht sich in den besten Jahren, der Arzt sieht drohenden Infarkt und Schlaganfall.

Das gesellschaftliche Bild der Generation 50 plus hat sich ebenfalls verändert. Neben dem biologischen und dem kalendarischen Alter gibt es neuerdings das gefühlte Alter. Die Wortschöpfung vom rüstigen Rentner zeigt das ebenso wie die Gewinnspanne der Anti-Aging-Industrie. Die Werbewirtschaft hat die "Best Agers" als Zielgruppe entdeckt und meint damit eine Klientel ab 55, die Geld und Zeit hat. Dazu passt der Slogan des Medizin- und Selbstvermarkters Dietrich Grönemeyer: "Turne bis zur Urne".

In den 1960er-Jahren war das noch anders, besonders Frauen waren damals in der zumeist männlich geprägten Sicht früh alt. In Medizinbüchern wurde die Frau in den Wechseljahren als Greisin bezeichnet. Ein krummer Rücken durch Osteoporose wurde "Witwenbuckel" genannt. Iris Berben, 58, Kim Basinger, 55 oder Glenn Close, 62, gelten heute als Schönheitsideale.

Vor 40, 50 Jahren hätten sie unter dem Verdacht gestanden, es Bertolt Brechts "unwürdiger Greisin" nachzutun. In der Erzählung geht es um eine Frau jenseits der 70, die es sich nach dem Tod ihres Mannes - gegen alle Konventionen - gutgehen lässt.

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SZ vom 23.06.2009/bilu
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