La Boum:Die Übersehenen

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(Foto: Steffen Mackert)

Unsere Kolumnistin gedenkt des bekannten Fotografen René Robert, der nach einem Infarkt auf einer Pariser Straße erfroren ist. Passanten hatten ihn einfach liegen gelassen.

Von Nadia Pantel

Es gibt Momente, in denen die große Paris-Maschine ins Stottern gerät. In denen nicht mehr alle so tun können, als würden die Leben reibungslos aneinander vorbeirasen. Der 19. Januar war so ein Moment. Der bekannte Fotograf René Robert erleidet mitten in Paris einen Herzinfarkt. Er bleibt auf dem Bürgersteig liegen, in der Nähe der Place de la République. Neun Stunden lang laufen die Menschen an ihm vorbei, am nächsten Morgen ruft ein Obdachloser den Notarzt. Es war zu spät, der 85-jährige René Robert war erfroren.

Seitdem vermischen sich die schwer erträglichen Gefühle. René Roberts Familie und all diejenigen, denen sein Werk etwas bedeutet, trauern. Die anderen kommen nicht umhin, sich zu fragen, ob sie auch weitergegangen wären. Und sie müssen sich fragen, warum die Stadt erst dann erschrickt, wenn ein Prominenter zu denen zählt, durch die man hindurchschaut. Als wäre das Schockierende am Fall René Robert, dass er nicht den Tod gestorben ist, der für ihn vorgesehen war. Nicht in seinem Bett oder im Krankenhaus, sondern neben den anderen Übersehenen. Mehr als 600 Obdachlose sterben jedes Jahr auf den Pariser Straßen. Sie werden, wenn der Winter endet, in einer Sammelmeldung erfasst. Als würde die Stadt eine Inventur der Kälte machen - wie viel Grad waren es und wie viele Menschen haben wir damit allein gelassen.

Es ist in Paris fast unmöglich, von der Straße wieder in ein abgesichertes Leben zu wechseln

In einer der Nächte, in denen mein Sohn noch ein Baby war und kaum schlief, bin ich mal um sechs Uhr morgens mit ihm in den Park neben unserem Haus gegangen. Auf jeder Bank lag jemand. Ein früherer Pariser Obdachloser hat mir erzählt, dass er immer versucht hat, vor halb acht auf den Beinen zu sein. Damit ihn nie die Kinder am Boden sehen, die zur Schule laufen. Er hatte selbst einen Sohn.

Das letzte Mal, als ich mit voller Klarheit erfasste, in was für einem beschissenen Spektakel ich mitspiele, lief ich über die Rue de Rivoli. Ich hatte es eilig. Auf einem der Abluftschächte, die warme Luft aus dem Metrotunnel nach oben pusten, lag ein Mann mit nackten Füßen. In der Hand hielt er ein Handy, das Display leuchtete in sein Gesicht. Es ist in Paris fast unmöglich, von der Straße wieder in ein abgesichertes Leben zu wechseln. Ein Handy zu besitzen, ist hingegen sehr leicht. Überall in der Stadt gibt es Gratis-Wlan, an den Bushaltestellen sind Steckdosen zum Aufladen. Man kann also am Boden liegen und frieren und sich durch das bunte, warme Leben der anderen klicken.

Kurz nachdem René Robert erfroren war, träumte ich, dass ich ein Meeting einer französischen Präsidentschaftskandidatin besuchte. Die Kandidatin trat gemeinsam mit einem Chor auf und sang "Heal the World" von Michael Jackson. Im Traum machte ich mir Notizen. Als ich wieder aufwachte, erwischte ich gerade noch mein Unterbewusstsein. "Ist das dein Ernst?" fragte ich. "Ich bin hier wirklich nicht das Problem", antwortete mein Unterbewusstsein. Und das stimmte.

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