Süddeutsche Zeitung

Leben mit Corona:Ständig Angst, etwas falsch zu machen

Was ist in Zeiten der Pandemie jetzt verboten und was erlaubt? Das Leben mit Maske überfordert einen immer wieder. Ein Zwischenruf

Von Martin Zips

Es könnte ja sein, dass die Deutschen bisher deshalb so fantastisch durch die Krise gekommen sind, weil sie es schon seit Kindestagen gewohnt seien, sich immer die Hände zu waschen. Das wurde jüngst gesagt, in einer deutschen Talkshow. Schon schrie das gesamte Wohnzimmer auf: "Ja, glaubt ihr denn, dass sich die Türken, die Italiener, die Spanier und alle anderen nie die Hände waschen?" Erst als auch eine Teilnehmerin in der Fernsehrunde meinte, dass andere Nationen bestimmt ebenso reinlich seien und, falls nicht, so könne man sie ja ermahnen, wurde es daheim ein bisschen ruhiger. Aber auch verzweifelter.

Denn was am Ende von der Sendung blieb, das war die Feststellung: Deutsche waschen sich besonders oft die Hände. Und: Wer sich nicht an Regeln hält, den muss man ermahnen.

Man möchte ja nur alles richtig machen, in diesen Zeiten. Schon um zu vermeiden, dass die Bundeskanzlerin mit ihrer "Zu Weihnachten täglich 19.200 Neuinfizierte"-Prognose keinesfalls recht behält. Oder dass es bald so wird, wie es schon in Italien war, in Frankreich, Tschechien und den vielen, vielen anderen Risikogebieten. Ein bisschen verwundert hat es einen zuletzt aber schon, dass es jüngst in der Münchner Oper bei "Figaros Hochzeit" auf der Bühne derart ungeschützt zuging. Da wurde geküsst, geschrien, gesungen und gelacht. Sicher, die Schauspieler hatten sich zuvor testen lassen. Und Gott sei Dank gibt es sie endlich wieder, so wunderbare Kulturveranstaltungen. Bereits beim Schlussapplaus allerdings achteten Graf Almaviva und Kammerzofe Susanna, die sich gerade noch ganz nahe waren, schon wieder sehr penibel auf ihren Mindestabstand. "Son confusa", wie es in Mozarts Oper heißt. Auch die Zuschauer befolgten beim Rausgehen streng die Anweisung aus dem Informationsblatt: "Bitte bewegen Sie sich nur mit Mund-Nase-Bedeckung sowie möglichst Rücken-an-Rücken in den Reihen aneinander vorbei."

Aber warum, so fragte man sich zuletzt, setzte sich das Pärchen, welches man zur Vorstellung von Roy Anderssons Film "Über die Unendlichkeit" jüngst auf seinen sorgsam online vorbestellten Kinoklappstühlen vorfand, ausgerechnet in die (wegen Corona natürlich nicht freigegebene!) Reihe vor einen? Hätte man das nicht sofort melden müssen, an der Kinokasse? Denn laut dem Verband AG Kino gilt auch in Bayern weiterhin: Nachbarplätze, Vorder- und Rückreihe müssen gesperrt bleiben.

Das Gefühl bleibt: Wir errichten Wände aus Plexiglas, verhängen Beherbergungsverbote, tragen Maske, ermahnen, desinfizieren und halten den Mindestabstand ein - und doch ist und bleibt das unsichtbare Virus auch weiter fürchterlich bedrohend. Wie lange man die Pandemie mit Strafandrohungen und Vermummungsgeboten aufhalten kann?

Noch ein Beispiel. In den Schulen findet der Sportunterricht dieser Tage laut Verordnung mit Maske statt. Gute Idee! Aber in der engen Umkleidekabine nach den Leibesübungen, da hat natürlich kein Schüler mehr seine Maske auf. Ein Regelverstoß von Heranwachsenden, wenn auch ein verständlicher. Oder: Während der Mensch im Restaurant selbstverständlich seine korrekten Daten hinterlässt, so bleibt er zum Beispiel in öffentlichen Verkehrsmitteln von so einer Erfassung verschont. Im Gottesdienst herrscht weiterhin Mindestabstand, im Bordell eher nicht. Und wer sich des Abends in die Sauna begibt, der schwitzt zwar eng, darf den Duschraum aber erst betreten, sobald jemand anderes diesen verlassen hat.

Am Ende bleibt wohl nur die Erkenntnis, dass selbst der perfekteste Bürokratismus der aktuellen Situation nie gewachsen sein kann. Es können immer nur Versuche sein, sich und andere so gut wie möglich zu schützen. Wenn nur nicht die ständige Angst wäre, irgendetwas falsch zu machen! Geschimpft zu werden, weil man gerade kein Plastiksackerl zur Hand hat, in das man den benutzten Mundschutz stopfen könnte. Noch im Schlaf hört man Sätze wie: "Entschuldigung, bitte niesen Sie in die Armbeuge!" - "Verzeihung, haben Sie das Desinfektionsmittel schon benutzt?" - "Darf ich Sie bitte darauf hinweisen, dass bei uns Après-Ski nur sitzend erlaubt ist?" Schweißgebadet sitzt man im Bett. War einem nicht gerade im Traum die Maske verrutscht? Wo ist die überhaupt?

Man möchte wirklich funktionieren. Und glücklicherweise leben wir nicht in den USA, wo die Maske (aufgesetzt oder nicht) einer Kampfansage gleichkommt. Allein fragt man sich: Warum dürfen sich hierzulande Fußballer im Strafraum umklammern, vor intimem Torjubel hingegen werden sie von der Deutschen Fußball-Liga gewarnt? Kellner, Kameraleute und Pizzaboten, das ist absolut vernünftig, müssen laut entsprechenden Richtlinien Tröpfchenschutz tragen. Supermarktkassierer hinter Plexiglas, Postboten und Promi-Kandidaten in der Quizshow von Herrn Kerner eher nicht. Was, wenn Marcel Reif neben Wigald Boning im Studio plötzlich niest? Wird das dann später rausgeschnitten?

Man möchte echt nicht nerven mit solchen Fragen. Und man möchte unbedingt in die Christmette, am Weihnachtsabend. Aber man möchte auch nicht dastehen wie jemand, der sich nie die Hände wäscht.

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