Der Ursprung des Pariser Traditionshauses Hermès liegt im Lederhandwerk. 1837 machte Firmengründer Thierry Hermès als Sattler eine beachtliche Karriere, weil auch die Pferde des europäischen Hochadels exklusiv ausgestattet werden wollten. In den folgenden Jahrzehnten passte sich das Unternehmen immer wieder an die sich verändernde Gesellschaft an, und entwarf, weil es etwa auch den Aufstieg des Bürgertums miterlebte, irgendwann weit mehr als nur noblen Reiterbedarf.
Mittlerweile denkt man, wenn man Hermès hört, an das Carré, das populäre Seidentuch. Das Nietenarmband. Oder die legendäre, aber unerschwingliche Birkin Bag. An dieser Stelle der Firmengeschichte macht Hermès nun eine Art U-Turn. Für die neueste Kollektion "petit h" - "kleines h" - kehrt Hermès zurück zu seinen Wurzeln als einfache Sattlerei. "Ein Stück Leder fällt vom Arbeitstisch des Handwerkers", heißt es im Pressetext, "aus diesem Überbleibsel wird keine neue Tasche, sondern eine neue Kreation." Im Klartext: Wo gehobelt wird, fallen Späne. Im Workshop "petit h" wird Luxusmüll zu Luxusaccessoires verarbeitet.
Das Ergebnis: Dekorative, solide Stücke, die besonders charmant wirken, weil sie sich selbst nicht zu ernst nehmen. Zum Beispiel die Schaukel aus Lederriemen und Steigbügeln. Oder die Wäschekommode aus Leder und Frottee mit Koffergriffen in Türkis. Das originalgroße Reh aus Hermès-typischem, orangefarbenem Leder wird der ein oder andere Stammkunde jetzt auf einen Geschenkezettel notieren, damit er es den lieben Kinderlein an Heilig Abend unter den Christbaum stellen kann.
Aber Bambi kann nur einer haben. Die "petit h"-Kollektion ist nämlich eine Sammlung von limitierten Einzelstücken, die vom 13. November an zwei Wochen lang bei Hermès in Paris ausgestellt und zum Verkauf angeboten wird. Danach wird sie auf Welttournee gehen, bis sie ausverkauft ist. Das Bambi also reist nur so lange mit, bis es ein neues Zuhause gefunden hat.
Die Idee, Abfälle aus den Produktionsstätten von Hermès in einer neuen Kollektion weiterzuverarbeiten, stammt von Pascale Mussard, der Ururur-Enkelin von Thierry Hermès. Mussards ambitioniertes Projekt ist ein weiterer Schritt auf der Suche nach ökologisch verträglicher Mode. "Eco-Fashion" hat sich innerhalb der letzten Jahre zu einem großen und gleichzeitig schwierigen Thema entwickelt. Wie kann man Textilien herstellen, ohne massive Schäden an der Umwelt zu riskieren? Wie kann man einer Branche Nachhaltigkeit beibringen, deren Antrieb die konstante Veränderung ist? Auf Eco-Fashionweeks in New York und Vancouver versuchen junge Designer luxuriöse und marktfähige Öko-Mode zu präsentieren.
Hierzulande gibt es bisher nur eine Veranstaltung mit dem etwas umständlichen Titel "TheKey.to" - eine grüne Modemesse, die zur Berlin Fashionweek stattfindet. Auf globaler Ebene engagieren sich Promis schon lange für Eco-Fashion, die Designerin Stella McCartney genauso wie Harry-Potter-Schauspielerin Emma Watson. Ali Hewson, Gattin des U2-Sängers und Weltverbesserers Bono, hat gar ein eigenes Modelabel für ökologisch und betriebswirtschaftlich korrekte Kleidung; sie hat es Edun getauft.
Bloß: Edun hat laut der britischen Tageszeitung The Independent im vergangenen Jahr 6,5 Millionen Euro Verlust gemacht. Die Herstellung von Bio-Textilen ist teuer, und der Absatzmarkt steckt noch in den Kinderschuhen. Designer und Hersteller experimentierten bislang in erster Linie mit Biobaumwolle, um den Raubbau im Baumwollhandel einzudämmen. Ein schwieriges Unterfangen, weiß man heute: Bio-Baumwolle erweist sich in der Herstellung als ebenso durstig wie ihre nicht-biologischen Verwandten: Für ein Pfund Biobaumwolle werden 3500 Liter Wasser zur Bewässerung benötigt. Doch der Traum von trendigen Öko-Klamotten ist noch lange nicht ausgeträumt.
Der Avantgarde-Designer Mark Liu hat als einer der Ersten die "Zero-Waste"-Strategie entwickelt - eine puzzleartige Schnitttechnik, bei der das gesamte Ausgangsmaterial restlos für das Kleidungsstück verwertet wird. Seine einfachen Röcke, Blusen und Kleider sind mit aufwendigen, origamiartigen Applikationen versehen, die aus den Stoffresten des jeweiligen Kleidungsstücks gefertigt sind. Bereits 2008 schrieb er in seinem Buch "Sustainable Fashion: Why now?" über die Notwendigkeit von Wiederverwertung von Textilabfällen - aus ökologischen und ökonomischen Gründen, schließlich ist die Verwertung von Resten zu verkäuflichen Produkten auch eine weitere, wichtige Einnahmequelle.
In der Textilindustrie fallen im Schnitt 15 bis 30 Prozent Abfall während des Produktionsprozesses an, das macht in einer durchschnittlichen Textilfabrik circa 30.000 Kilo in der Woche und 1440 Tonnen im Jahr. Dazu kommen Garnreste und Verpackungsabfälle. Bereits seit Jahren versucht man die Produktionsabfälle der Textilindustrie zu recyclen - in Form von Wattebäuschen und Kerzendochten.
Dass man diesen Müll auch stilsicherer verwerten kann, überzeugte auch Julie Gilhart, Chefeinkäuferin der Modeabteilung des New Yorker Trendkaufhauses Barney's. Im vergangenen Jahr überredete sie Yves Saint Laurents Kreativchef Stefano Pilati, eine exklusive Öko-Kollektion für ihre Abteilung zu entwerfen. "Man muss überhaupt keine Öko- Materialen verwenden, um umweltbewusste Mode herzustellen", erklärt Gilhart, "Stefano Pilati hat einfach etwas benutzt, das schon existierte und dann etwas Neues daraus gemacht." Pilati rekonstruierte für seine "New Vintage"-Kollektion alte Designklassiker - wie den Trenchcoat und den Damen-Smoking - aus Textilabfällen seiner eigenen Werkstätte.
Wie Hermès' petit-h-Stücke sind auch die New-Vintage-Teile streng limitiert und nummeriert - Müll mit Sammlerwert. Dass diese beiden Kollektionen noch zwei winzige grüne Lämpchen sind im Modebetrieb, ist nicht weiter schlimm. Wichtiger ist, dass das Problem des Produktionsabfalls im Bewusstsein der großen Häuser angekommen ist. Und ganz nebenbei verdienen sich Luxuslabels mit solchen erschwinglicheren Produkten noch ein kleines Taschengeld dazu - und ein paar wertvolle Imagepunkte.
Eine solche Aufbesserung kommt Hermès übrigens ganz gelegen. Erst 2009 stolperte das Label öffentlich über Crocodylus porosus - eine Krokodilart, die auf eigens dafür eingerichteten Farmen in Australien nur für die Kroko-Birkin-Bag schlüpfen, leben und sterben. Anders sei die große Nachfrage einfach nicht zu bedienen, rechtfertigte sich daraufhin Hermès' Generaldirektor Patrick Thomas in der britischen Sunday Times. In einer Birkin steckten drei bis vier Krokodile. Die Tierschutzorganisation Peta rief prompt zum Boykott der Marke auf.
Eines muss man Hermès lassen: Das Modehaus hat sich stets den äußeren Veränderungen angepasst - 1837 war es der Sattel der Saison, 2010 ist es das Recycling-Armband. Und Abfall hat selten besser ausgesehen als der aus den Müllpressen des Kreativlabors "petit h".