Süddeutsche Zeitung

Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung:Die Krippen-Lüge

Von August an haben Eltern einen offiziellen Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung. Dann, so glauben viele, wird alles gut: die Integration, die Bildung - und die Gleichberechtigung sowieso. Bedauerlicherweise ein großer Irrtum.

Von Alexandra Borchardt

Man könnte meinen, endlich haben sie verstanden. "Wir brauchen mehr Krippenplätze", das sagen mittlerweile der Top-Manager, der Parteifunktionär, der Verbandssprecher, alle Frauen sowieso. Der Chef redet davon, der Dorfbürgermeister von der CSU, selbst Peer Steinbrück klingt überzeugt, seit er nicht mehr Finanzminister ist. Eigentlich fehlt nur noch der Papst. Man könnte aber auch misstrauisch werden. Warum tun plötzlich besonders viele Männer so, als wäre ihnen der Krippen- oder Kitaplatz ähnlich wertvoll wie früher nur eine Jahreskarte für FC-Bayern-München-Spiele? Und warum kennen Frauen mit Kinder- und Karrierewunsch kaum ein anderes Thema?

Weil es so schön wäre. Es wäre so angenehm, gäbe es diesen einen, diesen magischen Hebel, den man umlegen könnte, und manches würde verschwinden: etwa die leidige Diskussionen mit der Liebsten darüber, wer nach der Geburt wie lange die Arbeit ruhen lässt; oder die Debatte über ihr niedrigeres Gehalt und die Karrierebremsen im mittleren Management. All das eben, was Frauen unzufrieden und Männer ratlos macht.

Ganz davon abgesehen, dass Krippen auch noch dafür sorgen sollen, dass Einwandererkinder am Tag der Einschulung fehlerfrei Deutsch reden und sich die Söhne und Töchter aus Berlin-Grunewald mit jenen aus Berlin-Neukölln zumindest theoretisch von der gleichen Startlinie aus auf den Weg durchs Alphabet machen können. Schon bereiten Eltern Klagen vor, wenn es die Gemeinden bis August dieses Jahres nicht schaffen, den gesetzlich garantierten Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz zu erfüllen. Der Staat soll mal machen, und das schnell.

Das kann nicht gutgehen, das wird nicht gutgehen. Eltern und Politiker erwarten zu viel. Denn selbst wenn im August sämtliche Leons und Lauras in Deutschland ihre Rucksäcke morgens auf einer TÜV-geprüften Holzbank im "Regenbogen" oder "Spatzennest" ablegen können, wird die Wirtschaftswelt noch lange nicht zum Frauen- und Familienparadies.

Um das gleich abzuhaken: Krippenplätze müssen sein, denn ohne Kinderbetreuung geraten viele Familien in wirtschaftliche Not. Und es schadet Kleinkindern nicht, wenn jemand anderes als ein Blutsverwandter sie wickelt, tröstet und ihnen Kartoffelbrei hinstellt, vorausgesetzt, dieser jemand ist nicht jeden Tag ein anderer.

Aber je intensiver die Debatte allein um Krippenplätze kreist, umso weniger geht es um die entscheidenden Themen. Dazu gehört die (Neu-)Verteilung der Rollen zwischen Mann und Frau - sowie die Frage, die sich an die Unternehmen richtet: Was sind mir meine Mitarbeiter wert? Und es stellt sich auch eine Frage, die jeder für sich beantworten muss: Wie viel - und zwar nicht unbedingt in Euro und Cent berechnet - ist mir mein Kind wert? All das sind Dinge, die kein Familienministerium klären kann. Eltern haben die Verantwortung für ihre Kinder, nicht der Staat.

Krippenplatz hin oder her: Kinder fordern Zeit, kosten Geld und verändern das Leben. Das wissen Mütter und Väter überall auf der Welt. In vielen Ländern ist es für Eltern selbstverständlich, dass sie arbeiten und sparen, um ihren Kindern eine gute Ausbildung als Fahrkarte in die Zukunft zu ermöglichen. In Deutschland entsteht hingegen oft der Eindruck, die Zeugung von Nachwuchs hänge davon ab, wie üppig das staatliche Rundum-Sorglos-Paket ausfällt, das vom Krippen- bis zum Studienplatz, vom Eltern- bis zum Kindergeld reicht. Studien belegen seit Jahren: In keinem anderen Land wird so viel Geld für Familienleistungen eingesetzt - mit so wenig Wirkung.

Amerikanische Frauen sind den deutschen auf der Karriereleiter um einiges voraus und haben mehr Kinder, obwohl Krippen- und Kindergartenplätze dort zuweilen so viel kosten wie die monatliche Rate fürs Einfamilienhaus. Das mag man bedauernswert finden. Fakt ist aber, dass viele Paare hierzulande kein Problem damit haben, für Autos oder Urlaube Tausende Euro im Jahr auszugeben, doch die Betreuung der Kinder soll zu Ramschpreisen organisiert werden. Natürlich muss es für Geringverdiener günstige oder kostenfreie Betreuungsplätze geben - aber wer kann, sollte auch zahlen.

Dann wären vielleicht sogar angemessene Gehälter für das verzweifelt gesuchte Kita-Personal möglich. Und auch daran hängt viel: Nur gut ausgebildete Erzieher in ausreichender Zahl können dafür sorgen, dass die Kindertagesstätte ein Ort wird, an dem um Chancengleichheit zumindest gerungen werden kann.

Was Krippenplätze überhaupt nicht können: mehr Frauen in Führungspositionen bringen. Denn Frauen kommen im Berufsleben meist aus anderen Gründen nicht wunschgemäß voran - auch wenn Chefs gerne die schlechte Vereinbarkeit von Beruf und Familie als wichtigste Hürde dafür nennen, warum es ausgerechnet in ihrer Firma oder Abteilung mit der Gleichstellung nicht klappt. Ist ja auch angenehmer, das Problem auf ein paar fehlende Kita-Plätze zu schieben, als eigene Verhaltensweisen und -muster bei der Auswahl von Spitzenkandidaten infrage zu stellen.

Frauen sehen das Problem klarer. Im "Corporate Gender Gap Report" des World Economic Forum aus dem Jahr 2010 rangierte das Fehlen von Kitaplätzen nur im unteren Drittel einer langen Liste von Barrieren, die Frauen den Aufstieg erschweren. Am häufigsten wurden folgende Gründe genannt: kulturelle Normen, männliche Firmenkultur, das Fehlen von Vorbildern. Wären wirklich nur die Krippen das Problem, müssten die Vorstandsetagen heute schon voller kinderloser Frauen sein. Das sind nämlich jene, die sich um Betreuungsplätze nie sorgen mussten. Tatsächlich fällt aber auf, dass Frauen in Top-Positionen oft Kinder haben, ob Managerin oder Ministerpräsidentin.

Wie sie das hinkriegen? Oft nicht viel anders als ihre männlichen Kollegen. Es ist häufig so, dass Karrierefrauen mit Männern verheiratet sind, die ihnen daheim zumindest teilweise den Rücken frei halten. Das können Künstler sein, Freiberufler oder ältere Männer, die eine Karriere bereits hinter sich haben. Oder auch Lehrer, die nachmittags und in den Ferien für die Kinder ansprechbar sind. Eine Beraterin, die einen Kreis von Top-Managerinnen betreut, erzählte kürzlich, dass fast alle in jener Runde Modelle mit vertauschten Rollen praktizieren. Und die Frauen sind zufrieden damit.

Die Facebook-Spitzenmanagerin Sheryl Sandberg hämmert jungen Frauen deshalb bei jeder Gelegenheit ein: "Ihre wichtigste Karriere-Entscheidung ist, wen Sie heiraten." Obwohl Frauen diese Entscheidung häufig zu einem Zeitpunkt treffen, an dem sie weder die eigene noch seine Karriere vorhersehen können, gibt es meist Richtungssignale. Das heißt: Frauen, die nur Alpha-Männer mögen, sollten sich schon mal auf Beta-Karrieren einstellen. Wer zur Steigerung des Selbstwertgefühls einen Erfolgsmann mit entsprechendem Einkommen braucht, sollte sich hinterher nicht beklagen, wenn der Mann dann selten daheim und bei den Kindern ist - während man selbst mit Teilzeitjob in der Sackgasse landet.

Die amerikanische Autorin Hanna Rosin, die derzeit mit der deutschen Version ihres Buches "The End of Men" ("Das Ende der Männer") durch Deutschland tourt, rät karrierefreudigen Studentinnen: "Wenn du in der Business School einen Mann triffst, von dem du annimmst, er könnte mal ein Vermögen machen, heirate ihn nicht. Nimm lieber einen aus dem mittleren Management." Ein Kitaplatz ersetzt niemals den Partner, der sich fürs Kind auch wirklich verantwortlich fühlt.

Das dämmert auch vielen Männern. Kein Wunder, dass sie sich plötzlich allerorten für Krippenplätze starkmachen. Sie sehen ihre hochqualifizierten, ehrgeizigen Frauen und fürchten, sie könnten ähnlich wie ihre Mütter jahrzehntelang mit ihren Kindern daheim bleiben. Höchste Zeit also, möglichst viel Verantwortung nach draußen zu delegieren. Aber es hilft nichts, Männer und Frauen müssen umlernen; sie müssen sich von alten Rollenbildern verabschieden.

Das Gute ist: Noch nie war das so leicht wie jetzt. Und auch die Männer können dabei gewinnen, denn endlich haben sie auch eine Wahl. Je stärker der Anteil der gut ausgebildeten und dann hoffentlich gut verdienenden Frauen wächst, umso geringer wird der Druck auf den Mann, um jeden Preis seine Familie ernähren zu müssen. Kaum ein Chef wird sich heute noch trauen, dem Mitarbeiter die Elternzeit auszureden. Allen Jammer-Essays zum Trotz, in denen der verunsicherte Mann sich zu seiner Macho-Seele bekennen darf, gibt es genug Väter mit Selbstwertgefühl, die es genießen, Zeit mit dem Nachwuchs zu verbringen, während ihre Frau schon wieder den Koffer für die Dienstreise packt. Solche Männer reden nur nicht andauernd darüber. Vielleicht, weil sie bei Geschlechtsgenossen damit nicht punkten?

Hanna Rosin hat sogar gute Nachrichten für Paare, die mit dem Rollentausch experimentieren, zumindest jene aus der Mittelschicht. Ehen, in denen mal er und mal sie beruflich Vorrang hat, während der andere in erster Linie die Kinder betreut, seien unter dem Strich glücklicher und stabiler als solche mit traditioneller Aufteilung, schreibt sie. In der gebildeten Klasse Amerikas habe dieser Effekt sogar zu einer Renaissance der Ehe geführt, die Scheidungsrate dort sinke. Sämtliche Studien zeigten: "Wenn eine Ehefrau arbeitet, ist die Ehe stabiler." Bleibe der Mann sogar daheim, profitierten die Kinder deutlich. Schließlich verbringen auch beruflich stark eingespannte Mütter im Durchschnitt deutlich mehr Stunden mit ihren Söhnen und Töchtern als in Vollzeit arbeitende Väter. Den Papa daheim gibt es dann noch dazu.

Daraus folgt auch: Die Arbeitgeber müssen umdenken. Es reicht nicht, ein paar schöne Betriebskindergärten zu bauen und auf Krippenplätze zu setzen. Rund-um-die-Uhr-Verfügbarkeit: Diese Zeiten gehen vorbei. Männer und Frauen werden künftig gleichermaßen auf mehr Familienzeit pochen. Umfragen ergeben: Für hochqualifizierte Uni-Absolventen und begehrte Mitarbeiter steigt der Stellenwert von Aktivitäten, die außerhalb von Schreibtisch, Business Class und Werkshalle stattfinden. Die Familie ist ihnen Kraftquelle und wird als solche geschätzt. Top-Leute werden sich zunehmend nur einkaufen und halten lassen, wenn man ihnen Top-Bedingungen bietet und ihre Wünsche nach einem Privatleben respektiert.

Achtung, das heißt nicht: Teilzeitjob. Der kann eine Falle sein. In der vor Kurzem veröffentlichten OECD-Geschlechter-Studie "Closing the Gender Gap" ist gut dokumentiert, dass die Gehalts- und Karriereschere zwischen Männern und Frauen in den Industrieländern umso kleiner wird, je höher der Anteil der in Vollzeit beschäftigten Frauen ist. Aber wann diese Stunden zu leisten sind, für welche Ereignisse man sich selbstverständlich frei nehmen darf und was als akzeptables Arbeitsverhalten gilt - in diesen Punkten muss sich viel ändern.

Amerikas Silicon Valley, bekannt für überlange Arbeitstage, ist auch Labor für innovative Arbeitsmodelle. So wird erzählt, dass Sheryl Sandberg ihr Büro bei Facebook meist um 16.30 Uhr Richtung Familie verlässt - natürlich loggt sie sich abends wieder ein. In Schweden wird der Kollege komisch angeschaut, der sich nach 17 Uhr noch am Arbeitsplatz aufhält. Hat der daheim nichts zu tun?

Noch-Nicht-Eltern sei gesagt, dass das Krippenproblem nicht das größte Problem ist, das sich im Laufe der Elternschaft stellt. Und die Kitabetreuung funktioniert nicht immer so (und auch nicht bei jedem Winzling) - wie man sich das vor der Geburt vorgestellt hat. Das Manövrieren Berufstätiger zwischen zuvor ungekannten Erkältungs- und Magen-Darm-Viren in den ersten Lebensjahren ihrer Kleinen lässt die Koordination eines Meetings zwischen vier Abteilungen wie ein Puzzle für Dreijährige erscheinen. Manch ein Kind will zudem einfach nicht funktionieren. Wird es in der Kita abgegeben, weint es. Stundenlang. Bestimmt kommt dann auch noch eine andere Mutter um die Ecke, die den Eltern zu verstehen gibt, sie seien einfach nicht entspannt genug. Dabei gibt es sie, die Sensibelchen. Jedes Kind ist anders, und alle muss man nehmen, wie sie sind.

Kinder wachsen außerdem schnell aus dem Krippenalter heraus. Wer erst danach feststellt, dass man sich je nach Kinderzahl für Jahrzehnte überlegen muss, wie man die Söhne und Töchter mit dem gewünschten Alltag vereinbaren kann, hat ein Problem. Ältere Kinder können verdammt viel Aufmerksamkeit fordern, wie die ehemalige US-Sicherheitsberaterin Anne-Marie Slaughter gestand, die ihr Amt im vergangenen Jahr wegen schwieriger Teenager-Söhne aufgab und darüber einen dies- und jenseits des Atlantiks heiß diskutierten Aufsatz schrieb ("Why women still can't have it all").

Erfahrungsgemäß lassen sich Wickeln, Füttern und Trösten deutlich unproblematischer delegieren als das Begleiten durch mathematische Gleichungen, komplizierte Freundesbeziehungen oder die Diskussionen darüber, welches elektronische Gerät zu welcher Tageszeit an- und abzuschalten ist. (Was nicht ausschließt, dass eine Tagesmutter den Eltern in dem einen oder anderen Punkt fachlich und strategisch haushoch überlegen sein kann.) Leider sind die meisten Schulen und Nachmittagseinrichtungen nicht im Mindesten dafür ausgestattet, durchschnittlich begabten Kindern ausreichend beizustehen. Ordentliche Ganztagsschulen schaffen - da hätte der Staat wirklich eine Aufgabe.

Auch die Kita-Gläubigen werden sich irgendwann damit abfinden müssen: Nicht jeder kann zu jeder Zeit alles haben - Kinder, zwei Vollzeitkarrieren, ein erfülltes Privatleben und noch ausreichend Kleingeld, um alle übrigen Wünsche zu finanzieren. Es ist an der Zeit, weit über die Krippe hinauszudenken.

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SZ vom 02.02.2013/vs
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