Die Ladys hatten ja keine Ahnung damals. Bei den Australian Open 2008 regten sich viele Fernsehzuschauerinnen noch auf, dass dieser Rafael Nadal vor dem Aufschlag ständig an seinem Hosenboden herumnestele. Der Mallorquiner solle sich gefälligst Unterhosen von Qualität kaufen und endlich damit aufhören, hieß es. 14 Jahre und den unglaublichen 21. Grand-Slam-Sieg später möchte man ihm höchstens dringend davon abraten, auch nur das kleinste Detail an dieser ausgeklügelten Routine zu ändern. Wenn am Ende solche Matches wie im Finale gegen Daniil Medwedew am vergangenen Sonntag bei den Australian Open herauskommen, soll der Mann bitte so viel zuppeln und richten, wie er will.
In den fünf Stunden und 24 Minuten war das alles noch einmal gut zu beobachten gewesen: das Handtuch, das der 35-Jährige auf die immer gleiche Weise über die Werbebande hängt. Wie er sich vor jedem Aufschlag Hemd und Hose zurechtzupft, die Haare hinter die Ohren streicht, sich an die Nase fasst, mit den Schweißbändern abwechselnd übers Gesicht wischt. 146-mal absolvierte er dieses Prozedere allein im Viertelfinale. In den Pausen müssen es außerdem zwei Flaschen sein, eine mit kaltem, eine mit lauwarmem Inhalt, von der er jeweils nur einen Schluck nimmt, um sie dann so hinzustellen, dass das draufgedruckte Logo in Richtung seiner aktuellen Spielseite zeigt. Diese Choreografie der Marotten wurde stets ein bisschen belächelt. Allmählich überlegt man eher, ob man sich nicht schleunigst auch ein paar Ticks zulegen sollte, um der eigenen Genialität endlich auf die Sprünge zu helfen.
Nadal ist schließlich nicht der einzige Tennis-Star mit gewissen Spleens. Björn Borg hörte auf, sich zu rasieren, sobald ein Grand-Slam-Turnier losging. Auch die deutsche Spielerin Andrea Petkovic hatte wie Nadal einen Flaschen-Tick. Drei bis vier davon reihte sie neben ihrem Sitzplatz auf. "Wenn die Flaschen parallel neben mir stehen, dann gibt mir diese Form Sicherheit. Vor allem, wenn ich im Match einmal unsicher bin, erscheinen sie mir wie eine Burg", erklärte Petkovic einmal.
Ronaldo sitzt im Bus immer in der letzten Reihe, Picasso verwahrte seine Haarreste
"Ankern" nennt man die Fokussierung und Aktivierung durch rituelle Bewegungsmuster in der Neurolinguistik. Eine Emotion wird mit einer bestimmten Geste verknüpft, wiederholt man künftig die Bewegung, wird dadurch die verankerte Emotion abgerufen. Im Falle von Nadal offensichtlich: totale Konzentration, übermenschliche Leidensfähigkeit. In einem Interview sagte er einmal, er wisse weder, wann er damit angefangen habe, noch wann er damit aufhören werde. "Im Wettkampf macht man eben mehr komische Dinge als sonst." Cristiano Ronaldo dürfte zustimmen. Der Fußballer sitzt im Mannschaftsbus angeblich immer in der hintersten Reihe, im Flugzeug muss es dafür die vorderste sein, den Rasenplatz betritt er grundsätzlich zuerst mit dem rechten Fuß.
Je mehr Trivia über große Persönlichkeiten man durchforstet, desto mehr Spleens begegnen einem. Albert Einstein soll strikt gegen Socken und Haareschneiden gewesen sein. Pablo Picasso wiederum hob alle seine abgeschnittenen Haarreste und sogar Fingernägel auf, um nichts von seiner "Essenz" zu verlieren. Charles Dickens hatte stets einen Kompass auf Reisen dabei. Nicht um den Weg zu finden, sondern um das Bett so auszurichten, dass er gen Norden schlief. Der Schriftsteller glaubte, das fördere seine Kreativität und seinen Schreibfluss. So steht es jedenfalls im Buch "Recipes for Good Luck: The Superstitions, Rituals, and Practices of Extraordinary People" der Autorin Ellen Weinstein.
Ob mit abnehmender Genialität auch die Schrulligkeit und Dichte der jeweiligen Marotten abnimmt, ist leider nicht erforscht. Allerdings ist von der Schauspielerin Megan Fox lediglich bekannt, dass sie gegen ihre Flugangst immer Britney Spears hört, weil ihr Schicksal unmöglich sein könne, mit dieser Untermalung den Tod zu finden. Heidi Klum hat immer einen Beutel Milchzähne dabei. Nicht die der eigenen Kinder übrigens, sondern eine Auswahl ihrer eigenen. Psychologisch doppelt interessant.
Aber wehe, das Ritual wird nicht eingehalten. Serena Williams verlor sofort ein Match
Rituale können dummerweise auch ihre Nachteile haben. Woran Joachim Löw - ziemlich erfolgreicher Bundestrainer immerhin - in Stresssituationen schnüffelte, bekam die ganze Fernsehnation mit. Und wenn die Routine aus irgendwelchen Gründen mal nicht befolgt wird, glauben viele an sich sofort einstellendes Unglück. Serena Williams ahnte deshalb schon zu Beginn ihres French-Open-Finales gegen Justine Henin 2007, dass sie verlieren würde: Sie hatte die Schnürsenkel nicht auf die übliche Art gebunden, sie hatte ihre Badelatschen nicht wie sonst immer in ihrer Sporttasche gehabt, als sie den Platz betrat, und obendrein den Ball vor dem Aufschlag nicht fünfmal aufprallen lassen. "Ich wusste, es war eine Fügung", erklärte Serena Williams später ihre Niederlage. Nicht auszudenken, wenn Britney Spears mal nicht auf Spotify läuft und der Flieger schon den Motor startet. Wer soll einen dann vorm sicheren Absturz retten? Taylor Swift?
Denkwürdig ist auch die Anekdote von Goran Ivanisevic 2001, als er kurz vor dem Karriereende in die Nähe des ersehnten Wimbledon-Titels kam. Zwei Wochen lang pflegte der Kroate Tag für Tag das gleiche Ritual, das ihn in den ersten Runden so siegreich gemacht hatte. Beim Frühstück schaute er Teletubbies im Fernsehen, was ihm bald auf die Nerven ging. Zum Abendessen kehrte er stets ins selbe Restaurant ein, setzte sich an denselben Tisch und bestellte die immer gleiche Speisefolge: Fischsuppe, Lamm mit Pommes Frites, Eis mit Schokoladensauce. Wie er später gestand, habe er den Hauptgang manchmal nur runtergekriegt, indem er sich vorstellte, "ich hätte Hühnchen auf dem Tisch". Vielleicht ist keinen Spleen zu haben auf Dauer doch entspannter.