Radikalisierung:Familientherapie für Salafisten

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Meist beginnt die Radikalisierung zum Salafisten vermeintlich harmlos, mit Koran-Verteilungsaktionen in der Fußgängerzone. (Foto: Britta Pedersen/dpa)

André Taubert berät Eltern, die fürchten, ihre Kinder an Islamisten zu verlieren. Der Salafismus ist ein Prozess, sagt er. Und den kann man aufhalten.

Von Peter Burghardt, Hamburg

Ein Schild an einem Gebäude irgendwo in Hamburg. "Legato", steht darauf. "Systemische Ausstiegsberatung." Die Adresse ist nicht geheim, wird aber auch nicht groß publik gemacht, es geht um ein heikles Thema. Salafismus, das klingt ja für viele nach bärtigen Kämpfern und vermummten Selbstmördern, obwohl es hier gar nicht so weit kommen soll.

Wer in der Hansestadt befürchtet, dass Sohn oder Tochter dem extremen Islamismus verfällt, der findet oft die zuständige Nummer und wählt sie. "Das Telefon steht nicht still", sagt André Taubert.

Enormer Leidensdruck für Angehörige

Der Religionspädagoge Taubert sitzt in einem Besprechungszimmer von Legato, der "Fachstelle für religiös begründete Radikalisierungen", ein unaufgeregter Mann von Ende dreißig mit hoher Stirn. Die Räume und Möbel sind schlicht, modern und hell, - schon das Ambiente vermittelt eine Ruhe, die den Hilfesuchenden in der Regel abhanden gekommen ist. An diesem Tisch neben der Zimmerpalme oder, falls gewünscht, auch bei den betroffenen Familien daheim fragen die Experten von Legato, geben Anregungen. Hören zu. Denn der Leidensdruck der Angehörigen, die sich melden, ist gewöhnlich enorm. "Die haben Angst, dass ihre Kinder nach Syrien abhauen oder sonst einen Scheiß machen", berichtet Taubert. "Die stecken mitten in heftigen Auseinandersetzungen mit ihren Kids. Die Not ist groß."

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Ungefähr 460 Menschen rechnet das Hamburger Landesamt für Verfassungsschutz in seinem Jahresbericht dem salafistischen Umfeld an Alster und Elbe zu. 270 davon unterstützten mutmaßlich den bewaffneten Dschihad, also den sogenannten heiligen Krieg. 60 von ihnen sind nach Erkenntnissen der Behörden zur Terrormiliz IS nach Syrien oder in den Irak ausgereist, Tendenz steigend. Auch die Zahl der Koranstände hat zugenommen, ebenso der Versuch der Einflussnahme von Fanatikern in Moscheen, Flüchtlingsunterkünften, Schulen und sozialen Netzwerken wie Facebook, vor allem bei unbegleiteten minderjährigen Immigranten. Norddeutschlands Metropole gilt als eine Hochburg der Szene. Vor den New Yorker Anschlägen vom 11. September 2001 lebte im Großraum der Metropole sogar unbemerkt eine Zelle von al-Qaida unter dem späteren Todespiloten Mohammed Atta.

Das alles hat den Senat dazu veranlasst, die Vorsorge zu verstärken, und da kam man auf Fachleute wie André Taubert. Zuvor hatte er seinen Sitz im ebenfalls komplizierten Bremen, dann wurde dieses Büro in Hamburg eröffnet. Die sieben Teilzeitangestellten des Pilotprojekts Legato sind keine Islamwissenschaftler. Es geht ihnen zunächst um die Bewältigung menschlicher Krisen, die zu Hause begannen, am Arbeitsplatz oder im Klassenzimmer. "Letztendlich ist das Familientherapie", sagt Taubert. "Die Eltern sind der Schlüssel."

Das sei ganz anders als bei Rechtsradikalen, die Taubert übrigens für mindestens genauso gefährlich hält wie Salafisten, deren Eltern aber selten Beistand suchen, weil sie keine Angst vor einem Umzug ihrer Kinder auf syrische Schlachtfelder haben oder gar deren Gesinnung teilen. Dagegen sind die wenigsten Eltern der derzeit 65 salafistischen Fälle, die Legato betreut, praktizierende Muslime - etwa die Hälfte der betroffenen Jugendlichen sind Konvertiten.

André Taubert, 39, ist Leiter der Beratungsstelle Legato. Das italienische Wort für "verbunden" soll deutlich machen, dass es um die Bindungen innerhalb der Familie ankommt. (Foto: OH)

Das ist einer der Gründe, warum die plötzliche Verwandlung mit Gebeten, Abstinenz, Bart oder Schleier den engsten Verwandten besonders auffällt. Und der entscheidende Zugang sind statt der Väter eher die Mütter, die letzte Bastion. Der erste Schritt zu einer Stelle wie Legato ist dann der Anruf und ein Treffen mit einem Berater, was meistens von den Müttern ausgeht und fast nie von den Kindern selbst. Viele Mütter kostet das Überwindung, weil sie zunächst das Gefühl haben, dass allein die Kontaktaufnahme Verrat gleich kommt.

Das Kind wieder zum Subjekt machen

Auch beobachtet André Taubert immer wieder einen Reflex, bei dem die Eltern über religiöse Gehirnwäsche klagen und über die Bösartigkeit des IS. "Das Kind wird ein bisschen zum Objekt gemacht. Wir machen das Kind gemeinsam mit den Eltern wieder zum Subjekt." Es sei ziemlich beeindruckend, wenn sie gemeinsam zu der Erkenntnis kommen, dass das Kind da mit der Hinwendung zur konservativen Religion eine freie Entscheidung getroffen habe und warum das so ist.

Wenn er Mütter bittet, bei der Erzählung vorne anzufangen, dann beginnen viele Frauen mit der Radikalisierung von Söhnen oder Töchtern, doch mit vorne meint Taubert mehr oder weniger die Geburt. Oft sind traumatische Erfahrungen der Auslöser, Enttäuschungen, Probleme in der Schule, bei der Ausbildung, im Job. Gewalt. Pubertät. Liebeskummer. Persönlichkeitskrisen machen empfänglich für Botschaften, die im Islamischen Staat die Befreiung verkünden. "Der Salafismus ist ein Prozess und keine Organisation", sagt André Taubert. Ein ebenso schlichter wie entscheidender Satz, denn Prozesse lassen sich theoretisch leichter aufhalten als Organisationen. Jedenfalls ohne Waffen, Tod, Verhaftung.

Krise, Isolation, Konfrontation

Jeder Fall ist anders, aber es gibt ein Muster. Krise, Isolation, Konfrontation, noch mehr Isolation, noch mehr Konfrontation, Provokation. "Wenn du die Krise in den Griff kriegst, dann kriegst du auch die Radikalisierung in den Griff", sagt Taubert. "Du musst den Isolationsprozess stoppen." Er rät auch davon ab, mit den werdenden Salafisten über wahren oder falschen Islam zu diskutieren. "Ihr lasst mich ja den wahren Islam nicht leben", solche Sätze bekommt man da zu hören. Und Debatten über die Horrorberichte über den IS münden gerne in Debatten über westliche Propaganda. Taubert empfiehlt: "den Menschen wertschätzen und trotzdem Position beziehen", alte pädagogische Ansätze.

Die Erfolgsquote ist gut, trotz allem. Etliche junge Deutsche sind in Syrien oder Irak gestorben. Andere kamen zurück, zwei Heimkehrer aus Wolfsburg stehen in Celle vor Gericht und schildern ihre Traumata. Doch von den Familie, mit denen Legato arbeitet, ist offenbar niemand in den Dschihad gezogen.

© SZ vom 23.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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