Radical Honesty:Und nichts als die Wahrheit

Eine Woche, ein Experiment: Keine Lügen, nur die Wahrheit. Ohne Taktgefühl und Beschönigungen. Es kann das Leben verändern - oder einem einfach nur egal sein.

Jürgen Schmieder

Dieser Text. Er soll mich berühmt machen. Und reich. Die Menschen sollen ihn großartig finden. Sie sollen Leserbriefe schreiben. Mein Chef soll eine Sonderprämie ausloben. Ein anderer Arbeitgeber soll mir ein phantastisches Angebot machen - das ich je nach Laune annehme oder ablehne. Alte Schulfreunde sollen mich um meinen Job beneiden. Meine Kollegen sollen mich preisen. Ach ja: Natürlich gibt es diesen Text, weil es mein Job ist und die anderen denken, ich sei eine faule Sau, wenn ich nichts schreibe.

Radical Honesty, istockphoto

Shut up! Gut, wenn die Kollegen bei "Radical Honesty" nicht zu radikaleren Mitteln greifen.

(Foto: Foto: istockphoto)

So, das wäre geklärt, jetzt kann es losgehen. Dieser Text ist der Versuch, ganz und gar ehrlich zu sein.

"Arrogantes Arschloch" waren Worte, die oft gesagt wurden in dieser Woche. Ich war ja auch eins - und bin es vielleicht immer noch. Auch ganz oben auf der Liste: "Taktloser Vollidiot" und "Hau' bloß ab". Das Schienbein ist blau, die linke Wange ein wenig gerötet und der Magen tut auch weh. Eine Nacht auf der Couch, ein bester Freund weniger, genervte Kollegen - und das alles nur, weil einer mal eine Woche lang die Wahrheit gesagt hat. Auf Englisch heißt das "Radical Honesty".

Es ist eine Bewegung aus den Vereinigten Staaten. Erfinder ist Brad Blanton, der sich selbst "The Truth Doctor" nennt und, ja wirklich, aus Washington D.C. kommt. Er behauptet, dass die Welt ein besserer Platz wäre, wenn alle Menschen die Wahrheit sagen würden. Auf der Homepage RadicalHonesty.com heißt es: "Erzähle den Menschen, was du gemacht hast und was du vorhast. Was du denkst, was du fühlst. Und dann wirst du ein glückliches und erfülltes Leben führen." Schon komisch, dass man sich nach einer Woche nicht wie ein glücklicher und erfüllter Mensch fühlt, sondern wie ein Arsch.

Kein Filter zwischen Gehirn und Mund

Das Konzept ist einfach: Keine Lüge. Immer die Wahrheit. Kein Taktgefühl, keine Diplomatie, keine Beschönigungen. Ohne Filter zwischen Gehirn und Mund. "Wenn dir das Wort Arschloch durch den Kopf geht, dann sage nicht Idiot, auch wenn der andere beleidigt ist und dir aufs Maul haut", sagt Blanton. Der Satz ist die MTV-Version des Aufklärers Immanuel Kant: "Wahrhaftigkeit ist formale Pflicht des Menschen gegen jeden, es mag ihm oder einem anderen daraus auch noch so ein großer Nachteil erwachsen."

Das mit dem Lügen steht ja schon in der Bibel; und es gibt auch einen lustigen Film mit Jim Carey ("Liar, Liar"). Aber es ist nicht mehr ganz so lustig, wenn man es selbst versucht. Das Gebot, immer die Wahrheit zu sagen, ist theoretisch nachvollziehbar, aber ebenso praktikabel wie Rauchverbot in Eckkneipen und Sozialismus.

Lügen halten diese Welt zusammen, das hat schon die Autorin Claudia Mayer in ihrem Buch "Lob der Lüge" aufgeschrieben. Ohne Lügen und Diplomatie würden Egos zerstört, private Beziehungen zerschmettert, Kriege provoziert. Nach spätestens acht Wochen würde Anarchie herrschen.

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Und nichts als die Wahrheit

Das erste zerbrochene Ego gab es bei einem Telefonanruf am dritten Tag. Ich erklärte einem - zumindest bis dahin - sehr guten Freund am Telefon, dass er sich verdammt nochmal einen Job suchen soll und mir nicht mit seinem Mitleids-Geflenne und der Nach-Studiums-Depression auf die Nerven gehen soll.

Radical Honesty: In der Beziehung ist radikale Ehrlichkeit nicht immer der beste Weg.

In der Beziehung ist radikale Ehrlichkeit nicht immer der beste Weg.

(Foto: Foto: Istock)

Ach ja, seine Frisur sähe aus, als würde man Spaghetti schwarz färben und sie ihm auf den Kopf legen. Er hat aufgelegt. Wir haben bis heute nicht miteinander gesprochen. Aber ich bin mir sicher, nie wieder Geschichten über Bewerbungsunterlagen und Vorstellungsgespräche zu hören. Schön.

Noch ein oberflächlicher Journalist

Um Anarchie in der kleinen Welt zu verhindern, sollte eine Woche genügen. Radical Honesty light für Wahrheits-Amateure sozusagen, der "Truth Doctor" sollte helfen. Eine E-Mail mit der Projekt-Erklärung beatwortete Blanton so: "Oh mein Gott, noch so ein oberflächlicher Journalist, der das mal kurz versuchen will! Kein Interesse." Okay, der Mann ist ehrlich.

Blanton hat sieben Bücher veröffentlicht, er hat für den Kongress in Virginia kandidiert (und 25 Prozent geschafft), er veranstaltet Workshops, die sich tagelang hinziehen und bei denen man sich irgendwann einmal nackt ausziehen muss. Auf Fotos sieht er aus wie eine Mischung aus Wanderprediger und Hinterbank-Politiker. Er hat das Lächeln im Gesicht, das sich Schauspieler auf dem roten Teppich oder Hostessen bei den Olympischen Spielen ins Gesicht tackern. Und der denkt nach einer E-Mail, dass ich ein oberflächlicher Lügner sei.

Kleine und große Lügen

Es stimmt. Ich lüge. Jeden Tag. Ich würde mich jetzt nicht zu den großen Lügnern zählen, eher zu den Wahrheitsbiegern und Beschönigern. Ich sagte bisher: "Steht dir schon, das Kleid", wenn ich sagen wollte: "Ist dein Arsch fett in dem Ding!" Und natürlich: "Klar kümmere ich mich drum, lieber Kollege", obwohl die Wahrheit wäre: "Warum machst du das nicht selbst, Vollidiot?" Das ist Diplomatie oder Taktgefühl, wie auch der Mannheimer Sozialpsychologe Marc-André Reinhard bestätigt.

Er unterscheidet gute und schlechte Lügen: "Eine schlechte Lüge ist die bewusste falsche Weitergabe von Informationen. Aussagen, von denen man eindeutig weiß, dass sie nicht wahrhaftig sind, und die dazu dienen, einen eigenen Vorteil zu erlangen. Lügen, die weniger problematisch sind, dienen beispielsweise dem Schutz des Selbstvertrauens einer nahestehenden Person."

Für Branson ist das Quatsch - oder in seiner Sprache: "Bullshit". Eine Lüge ist eine Lüge ist eine Lüge. Fertig. Aus. Und der Mensch lügt laut einer Studie des Mentiologen - so die wissenschaftliche Berufsbezeichnung des Lügenforschers - Peter Stiegnitz 150 bis 200 Mal. Pro Tag. Dazu gehören auch Ironie, Hochstapelei und Untertreibung aus Bescheidenheit.

Das ist nun vorbei. Eine Woche lang. Die Wahrheit, die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit. So wahr mir Gott helfe.

Es ist eine seltsame Situation, wenn man den Leuten großmäulig verkündet, so etwas zu versuchen. Sie sehen einen an, als würde man ihnen die "Sendung mit der Maus" erklären. "Dann bleib' besser daheim", sagen die meisten. Warum haben sie Angst, nur weil einer mal verkündet, dass er keinen Bock hat, Lügen zu erzählen? Warum assoziieren sie damit automatisch etwas Negatives? Es gab keinen, der sagte: "Oh cool, da gibt es schon ein paar Dinge, die ich gern von Dir wüsste!" Aber um ehrlich zu sein: Es war mir scheißegal.

Lesen Sie weiter: Das erste Mal und ein Abend mit der Ehefrau.

Das erste Mal war auf dem Münchner Hauptbahnhof. Eigentlich kein Ort, der für Adrenalin und erste Male bekannt ist. Man kann Radical Honesty nicht planen, Samstagmorgen sollte es losgehen, also ging es Samstagmorgen los.

Die Aufregung, von der Brad Blanton, der "Truth Doctor" und Erfinder der "Radical Honesty" gesprochen hat, ist tatsächlich da. Es ist wie damals in der zehnten Klasse, als jeder ein hübsches Mädchen fragen musste, ob es mit ihm zum Abschlussball gehen wolle. Ich stand in der Schlange vor dem Schalter, um ein Ticket zu kaufen.

Ein junger Mann wollte nach vorne, weil sein Zug in drei Minuten fahren würde. Alle Wartenden ließen ihn gewähren. Dann sagte die Frau am Schalter: "Tja, Pech gehabt. Ich bediene erst den anderen." Wie oft hat man diese Situation schon erlebt, wie oft denkt man sich: "Jetzt müsste mal jemand etwas sagen!"

Unverblümt gegen unhöflichen Service

Doch nun war es soweit. Ich würde derjenige sein, der seinen Mund aufmacht. Nein, ich musste derjenige sein. Die Schlagader pulsierte bis zur Zerrung. Irgendwas wollte mich zurückhalten, aber es war zu spät: "Das gibt's ja wohl nicht, Sie blöde Kuh. Sie wundern sich echt, dass jeder die Bahn hasst. Da wollen Sie zweifünfzig Bedienzuschlag, und dann hockt da eine dumme Schnepfe wie Sie und lässt den Mann seinen Zug verpassen."

Die Frau sah mich an, als hätte man ihr eine Ohrfeige verpasst. Sie fragte verblüfft: "Was soll ich jetzt machen?" "Den Mann bedienen, weil das Ihr verdammter Job ist!" Sie wurde pampig: "Und es ist mein Job, mich Arschloch nennen zu lassen?" Meine Antwort: "Ich habe nur Schnepfe und blöde Kuh gesagt."

Zwischen Held und Arschloch

Dann bin ich gegangen und habe mir ein Ticket vom Automaten geholt. Es war ein seltsames Gefühl. Befreit. Mutig. Heldenhaft. Diese 30 Sekunden kamen mir vor wie ein schnell geschnittener Kurzfilm. Die anderen Wartenden sahen mir nach mit einem Ausdruck der - wie ich glaube - Bewunderung und Überraschung. Die anderen Gefühle: Niedergeschlagen. Taktlos. Arschloch. Ach, egal. "Mit der Zeit lernt man diese Aufregung des ständigen Risikos zu schätzen", schreibt Blanton. Das ist wahr.

Kick Nummer zwei folgte am Abend. Es war keine aufregende Konversation mit der Ehefrau. Ich erklärte, dass mein Gehirn nie abschalten würde. Sie behauptete, dass ihr das genauso gehen würde. Da fühlte ich den Dämonen Taktlosigkeit wieder in mir hochkommen: "Ich wäre ja schon froh, wenn du dein Gehirn für sechs Stunden am Tag einschalten würdest."

Lesen Sie weiter, wie die Ehe nach diesem Satz weitergeht ...

Und nichts als die Wahrheit

Radical Honesty: Radical Honesty - sein wahres Gesicht zeigen.

Radical Honesty - sein wahres Gesicht zeigen.

(Foto: Foto: Istock)

Bamm! Der Satz war da, er lag im Raum wie eine Kriegserklärung. Stille. Fünf Sekunden lang. Dann sagte sie: "Du arrogantes Arschloch! Du hältst dich wohl echt für den Klügsten!" Es folgten noch ein paar Beschimpfungen und eine Nacht ohne Gute-Nacht-Kuss. Diesmal gab es nur ein Gefühl: Du taktloser Depp!

Das müsse auch so sein, sagt Wahrheits-Doktor Blanton: "Wenn du mit der besten Freundin deiner Frau schlafen willst, dann sag' es der Freundin - und sag' es deiner Frau! Das macht am meisten Spaß. Und wenn du deine Frau an einem Tag hasst, dann teile es ihr mit!"

Klar, Mister Blanton, Mister Truth-Doctor, schon in Ordnung. Ist ja auch zum fünften Mal verheiratet, der Mann - derzeit mit einer Flugbegleiterin, die 25 Jahre jünger ist als er. Hat bei Beziehungen anscheinend prima geholfen, dieses Wahrheits-Ding. Ich würde gern bei meiner Frau bleiben. Radical Honesty in einer Ehe? Das positivste Resultat wäre Scheidung.

Ehrlicher Hass

Klar gibt es Tage, an denen ich meine Frau hasse. Ehrlich und abgrundtief. Ich bin sicher, dass sie mich hasst. Wahrscheinlich öfter als ich sie. Die Ehe funktioniert dennoch wunderbar, weil diese Momente verstreichen und alles wieder besser wird. Warum aber dieses System des Schweigens? "Weil wir manipulative und verlogene Hurensöhne sind", sagt Blanton. Man müsse eben lernen, mit Wahrheit umzugehen.

Meine Frau konnte das. Ich habe ihr erzählt, dass ich einer Kollegin gesagt habe, dass ich ihren Arsch phantastisch finden würde. Sie lächelte nur. Nur: Ich hatte der Kollegin auch gesagt, dass ich gerne zugreifen würde. Das brachte mir einen Tritt gegen das Scheinbein ein, von meiner Frau nur ein Lächeln.

Sie nutzte die Wahrheitswoche für ihre Zwecke. Als ich mit Pizza heimkam, sagte sie: "Schmeckt mir nicht! Würde es dir wirklich was ausmachen, noch einmal loszufahren und was anderes zu holen?" Die ehrliche Antwort: "Ich habe überhaupt keinen Bock, aber es macht auch nicht wirklich was aus." Schon saß ich im Auto auf dem Weg zum Restaurant.

Flirtender Faulenzer

Die Beziehung verschlechterte sich nicht durch die ausgesprochene Wahrheit - aber sie wurde auch nicht besser. Das, was ihr in diesen Tagen an den Kopf geworfen wurde, wusste sie schon vorher. Ich flirte mit anderen Frauen. Ich bin arrogant. Ich bin faul. Alles bekannt, muss nicht gesagt werden.

Dennoch wurde "Radical Honesty" zur Sucht. Mein körperlicher Zustand nach drei Tagen: lädiert. Der geistige: extrem gereizt und gelangweilt. Ich war ein wandelndes Kritik-Instrument auf der Suche nach einer Zielscheibe, der Desperado der Wahrheit, dem alle aus dem Weg gehen, sobald er den Saloon betritt. Der seine Sprüche schneller abfeuert als sein Schatten: "Du bist fett, die Weste hat dir vor fünf Kilo mal gepasst", "Wieder mit Luca-Toni-Strähne unterwegs, willst Du den Luca-like-Contest gewinnen?" oder einfach nur "Du gehst mir auf den Sack".

Ich bin süchtig!

Dieter Bohlen ist dagegen mit seinen auswendig gelernten Sprüchen aus "Deutschland sucht den Superstar" nur ein Applaus heischender Halbwahrheiten-Erzähler. Ihr wollt Wahrheit? Kommt zu mir! Ich bin süchtig!

Süchtig nach dem Kick, in überraschte Gesichter zu blicken und die teilweise deftigen Reaktionen über sich ergehen zu lassen, auch von Kollegen. Ja, sagt mir doch mal, was ihr von mir haltet! Sagt doch, dass ich ein Schleimer bin, der sich für den besten Mitarbeiter hält. Und sagt mir, dass ihr hofft, dass ich irgendwann auf meine viel zu große Fresse falle.

Lesen Sie weiter: Die Reaktionen der anderen - und wie man ehrlich sich selbst gegenüber ist.

Beleidigt sein war die seltenste Form der Reaktion. Überraschenderweise stimmen die meisten Menschen zu, wenn man ihnen sagt, was man denkt. Eine Kollegin erzählte im Aufzug von einem Thema, das sie gerade anrecherchierte und zu dem sie einen Text fabrizieren wollte. Der Kommentar: "Puuuah, wieder so ein Ding, das keine alte Sau interessiert. Gleich schlaf ich ein!"

Ihre Reaktion: "Stimmt schon, aber was soll ich machen? Der Chef will das Thema." Und der Chef? Der lachte nur, als ihm eröffnet wurde, dass seine Hose aussieht, als hätte sie Silvester Stallone im ersten "Rocky"-Film getragen und seine Mütze, als hätte er sie gerade von einem Einbrecher geklaut. Glaubte er, das wäre ein lockerer Spruch mit einer Prise Übertreibung? Nein, Chef, das war die Wahrheit.

Eine andere Form der Reaktion verbunden mit einem beleidigten Gesichtsausdruck war Ehrlichkeit. Pur. Radical honesty in return. Davor warnt auch Blanton - oder vielmehr: Er hofft darauf: "Wenn wir alle ehrlich zueinander sind, funktioniert das Prinzip. Und es geht allen besser."

Touché

Den Kunden eines Kollegen fragte ich, ob er sich denn nicht schäme, in einem derart scheußlichen und schlechtsitzenden Anzug zu einem Termin zu erscheinen. Seine Antwort: "Immer noch besser als in einem zu großen T-Shirt, auf dem eine Jesus-artige Figur drauf ist." Touché. Das Big-Lebowski-Shirt ist wirklich nicht dem Büro angemessen - nur sagte das bisher keiner.

Es war so: Je ehrlicher man mit Menschen umgeht und ihnen auch taktlose Kommentare an den Kopf wirft, desto ehrlicher werden sie. Sie sprachen offen Probleme an, sowohl beim Arbeiten als auch im zwischenmenschlichen Bereich. Das tat weh, aber auch gut.

Nicht nur negative Seiten

Es resultierte in einer wichtigen Erkenntnis: Ehrlichkeit bedeutet nicht nur halbaggressive Sprüche und Beleidigungen, sondern ehrliche Kritik und ehrliche Komplimente. Es war herrlich. Man will zwar nicht immer wissen, woran man ist. Aber es tut manchmal sehr gut. Viele Fronten haben sich in dieser Woche geklärt, der Umgang ist seitdem, ja wirklich, respektvoller.

Lesen Sie weiter, warum es so schwer ist, ehrlich zu sich selbst zu sein ...

Und nichts als die Wahrheit

Einmal nutzte ich den redaktionsinternen Chatroom und schrieb einer Kollegin: "Echt tolle Frisur. Wenn ich nicht glücklich verheiratet wäre, würde ich versuchen, ein Date mit dir zu bekommen und hoffen, dass du dich in mich verliebst." Ihre Reaktion war ein Smiley, der einen Kussmund formt. Keine Abmahnung wegen sexueller Belästigung, sondern ein Augenzwinkern während der nächsten Redaktionskonferenz.

Ehrliche Fragen

Andere Kollegen gingen mir in dieser Woche aus dem Weg, nur eine Kollegin war schmerzfrei, sie holte sich bei ihrem Bruder sogar Inspiration für die Fragen. Wen von meinen Kollegen hasse ich? Wie viel verdiene ich eigentlich? Hätte ich das Zeug zum Chefredakteur? Habe ich Angst vor dem Tod?

Ich habe jede Frage beantwortet. An die anderen Kollegen: Das würdet ihr nun auch alles gerne wissen? Tja, ihr hattet Eure Chance!

Warum die anderen nicht wollten? Der Psychologe Charles Bond hat eine Theorie entwickelt, die vom doppelten Standard ausgeht. Für den Belogenen gilt das biblische Gebot "Du sollst nicht lügen", er denkt, ihm würde Schaden zugefügt. Der Lügner jedoch rationalisiert seine Aussage, oft mit der Begründung, größeren Schaden vermieden zu haben. So entstehe der Begriff der "Notlüge". Eine Studie der University of California ergab, dass Lügner in vier von fünf Fällen angaben, nur deshalb gelogen zu haben, um den anderen nicht zu verletzen.

Speckschwarte, Saustall und Strafzettel

Diese Theorie kann man nur auf eine Art überprüfen - bei der Art Ehrlichkeit, die am meisten weh tun kann. Denn Radical Honesty bedeutet auch, sich selbst nicht anzulügen und nichts zu beschönigen. Kein Baucheinziehen vor dem Spiegel. Lass diese weiße Kugel im Badezimmer-Licht glänzen wie eine mit Öl eingeriebene Speckschwarte und sieh sie dir an. Minutenlang.

Die Zähne sind dunkelweiß vom Rauchen und die Haare waren auch schon mal dicker. Die Klamotten sind dem Beruf nicht angemessen, sondern eher für einen Teenager entworfen worden. Die Wohnung sieht aus wie ein Saustall. Ich habe meine Finanzen überhaupt nicht im Griff und es gibt da noch ein paar Strafzettel auf dem Küchentisch.

Kurz: Dieser Mann, der doch gerne vorgibt, selbstbewusst und attraktiv und cool zu sein, dieser Mann hat sein Leben von hinten bis vorne nicht im Griff. Ständig will ich von anderen hören, dass der Text gut ist, weil ich sonst vor lauter Selbstzweifeln nicht einschlafen kann. Ich kann nicht verlieren. Ich bin zornig.

Es ist ziemlich deprimierend, ehrlich zu sich selbst zu sein.

Wirst du jetzt wieder lügen?

Am Ende der Woche war die häufigste Frage: "Wirst du jetzt wieder lügen?" Natürlich. Natürlich. Natürlich. Ich werde wieder beschönigen, ein gewisses Maß an Taktgefühl einsetzen und manchen Menschen unverhohlen ins Gesicht lügen.

Aber nicht mehr so oft. Ich werde den Menschen, die ich mag, auch sagen, dass ich sie mag. Ich werde meinen Kollegen offen sagen, was ich von ihnen halte. Und ich wünsche mir, dass mir mal öfter jemand die Meinung geigen würde.

Die Welt muss ja vor lauter Wahrheit nicht in Anarchie versinken. Aber ein bisschen mehr davon schadet ihr auch nicht.

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