Psychologie:"Wie ein Schnellkochtopf, dauernd am Explodieren"

Lesezeit: 7 Min.

Etwas Besonderes zu sein kann schön sein. Und schwierig. (Foto: Olga Capdevila)

ADHS, Hochbegabung, Dyskalkulie: Manche Kinder sind besonders. Wie geht es ihnen damit - und ihren Eltern? Betroffene Familien erzählen.

Protokolle von Barbara Vorsamer

ADHS

"In der Schule saß er unterm Tisch und hielt sich die Ohren zu"

Das sagt die Mutter: "Mein Sohn Bennet hat ADHS. Inzwischen kann ich das sagen, ich habe mich daran gewöhnt. Aber als uns der Kinderpsychiater die Diagnose mitteilte, dachte ich: Blöde Modediagnose, er hat eben Temperament. Heute weiß ich, dass ADHS eine Stoffwechselstörung im Gehirn ist. Bennet kann nichts dafür, dass er so ist, wie er ist.

Er kann zum Beispiel ganz schlecht vorausplanen, er kann nicht warten und findet es schwierig, still zu sitzen. Als er in die Schule kam, führte das zu ständigem Stress und Streit. Er fühlte sich überhaupt nicht wohl in der Schule, war abwechselnd ängstlich, wütend und überfordert. In der Schule saß er unterm Tisch und hielt sich die Ohren zu. Als mir die Lehrerin das mitteilte, wusste ich, wir müssen etwas tun.

Beim Psychiater musste das Kind Tests machen, wir Eltern und die Lehrerin füllten Fragebögen aus. Die Empfehlung nach der ADHS-Diagnose: Medikamente. Im ersten Moment war ich strikt dagegen. Aber der Arzt überzeugte mich. ,Ihrem Jungen geht es nicht gut, der braucht jetzt dringend Rückenwind.'

Die Medikamente haben Bennet sehr geholfen. Er wurde ruhiger, kommt in der Schule besser mit. Seine Ausraster, die zuvor oft eine Stunde gedauert und uns den ganzen Tag verdorben hatten, wurden weniger, und er kriegt sich schneller wieder ein. Am überraschendsten finde ich die Wirkung auf seine Feinmotorik. Früher hat er beim Ausmalen immer über die Linien gekritzelt, jetzt kann er es. Somit fällt ihm auch das Schreiben leichter.

Jetzt möchte ich ihm dabei helfen, sich selbst so anzunehmen, wie er ist. Im Moment findet er es schlimm, ADHS zu haben, und sieht seine positiven Eigenschaften gar nicht mehr. Deswegen lobe ich ihn viel und betone, wie kreativ er ist und wie schnell er reagieren kann."

Das sagt Bennet, 7: "ADHS zu haben, fühlt sich eigentlich gar nicht so besonders an. Aber ich kloppe mich oft. Wenn mich jemand ärgert, macht es 'Bom!' in meinem Kopf. Ich bin aggressiv, sagen die Erwachsenen. An Schultagen nehme ich deswegen Tabletten, danach darf ich nichts Süßes essen und habe Bauchweh."

"Er war wie ein Schnellkochtopf, dauernd am Explodieren"

Das sagt die Mutter: "Bela war von Anfang an weit für sein Alter, konnte früh sehr gut sprechen und hat uns oft überrascht mit dem, was er schon verstanden hat. Gemacht haben wir lange nichts, wir dachten uns: Ist halt ein cleveres Kerlchen. Wir haben ihn allerdings mit fünf Jahren eingeschult, weil ihm im Kindergarten langweilig war. Er ist also der Jüngste in der Klasse - und der Beste.

Als er in der dritten Klasse war, wurde es schwierig mit ihm. Er war wie ein Schnellkochtopf, dauernd am Explodieren, wenn Dinge nicht so liefen, wie er sie sich vorgestellt hat. Und weil er so viel versteht und so eine wilde Fantasie hat, hat er leider oft eine sehr genaue Vorstellung. Wenn dann der Besuch von Oma anders ablief, als er sich das zuvor überlegt hatte, fuhr er aus der Haut. Mein Mann und ich waren uns unsicher: Muten wir ihm zu viel zu? Oder ist er nicht ausgelastet?

Die Klassenlehrerin hat uns dann in ein Heilpädagogisches Zentrum geschickt. Bela hat dort diverse Tests durchlaufen und wir hatten pädagogische Beratungsgespräche. Am Ende war der Befund glasklar: hochbegabt, er hat einen IQ von 147 Punkten. Erst mal waren wir erleichtert, denn die Tests haben vieles andere - Autismus zum Beispiel und ADHS - ausgeschlossen. Wir wissen jetzt, dass er ein ganz normales Kind ist, nur eben besonders schlau. Andererseits wussten wir nicht so richtig, was wir jetzt machen müssen. Wir wollen nicht in diesen Strudel der Elitenförderung geraten, wichtiger ist uns, dass Bela im Alltag zurechtkommt. Das ist oft gar nicht so einfach, weil er im Kopf schon so viel weiter ist als im Bauch.

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In diese Richtung wollen wir ihn fördern. Deswegen haben wir uns gegen ein Elitegymnasium entschieden, er kommt jetzt einfach in die Schule um die Ecke. Außerdem suchen wir gerade nach der richtigen Sportart für ihn und wollen, dass er ein Instrument lernt. Er soll die Erfahrung machen, dass auch ihm nicht alles zufliegt. Denn dafür, dass andere manche Sachen nicht sofort verstehen, fehlt ihm manchmal das Verständnis."

Das sagt Bela, 9: "Ich langweile mich oft im Unterricht. Weil ich mir die Sachen immer gleich merken kann, nervt es, wenn wir sie dann noch mal und noch mal machen. Die anderen Kinder sagen manchmal 'Ich wär auch gern so schlau wie du' und 'du weißt ja immer alles'. Das verstehe ich - ich bin gerne so schlau.

"Er sprach darüber, wie es wäre, wenn er nicht mehr leben würde"

Das sagt die Mutter: "Es begann sehr plötzlich. Nach den Osterferien hatte mein siebenjähriger Sohn ständig Bauchschmerzen, wollte nicht in die Schule gehen. Doch auch wenn er zu Hause bleiben durfte, ging es ihm nicht gut. Dann kamen die Gedanken an den Tod: Er sprach darüber, wie es wäre, wenn er nicht mehr leben würde. Da schrillten bei mir die Alarmglocken. Erst recht, als dann der Satz fiel: 'Ich wünschte, ich wäre tot.'

Ich kontaktierte unsere Kinderärztin, die mich aber sofort zur Kinder- und Jugendpsychiaterin weiterschickte. Es ist wichtig, das Kind ernst zu nehmen und schnell zu reagieren. Dort stellte sich nach drei Sitzungen und einer Familienaufstellung heraus, dass er mit seiner Position als mittleres Kind total unglücklich war, er wusste nicht, wo er steht, und war sich unserer Liebe und Zuneigung nicht sicher. Wir mussten akzeptieren lernen, dass er ein sehr sensibles und kaum kritikfähiges Kind ist - und er musste lernen, dass er trotzdem nicht mit Samthandschuhen angefasst wird.

Heute geht es uns allen wieder gut, aber so für ein Dreivierteljahr hat uns das alle sehr belastet. Geholfen haben die Sitzungen mit der Therapeutin, die Mal- und Gesprächstherapie mit ihm gemacht hat, und dass er mit dem Fußballspielen angefangen hat. Die Bewegung und das Gefühl, ein wichtiger Teil eines Teams zu sein, sind sehr wichtig für ihn. Medikamente brauchte er keine. Ich habe aber immer noch jedes Mal nach den Ferien Angst, dass es wieder losgeht."

Das sagt Fiete, 9: "Ich hatte Schulangst, warum weiß ich nicht mehr genau. Ich hatte Bauchschmerzen, ganz stark, und ich musste zittern. Ich habe mich ganz komisch gefühlt und immer gedacht, dass ich schlecht in der Schule bin und dass mich alle Kinder ärgern. Das stimmt aber gar nicht und Mama sagt, damals hat es auch nicht gestimmt. Meine Therapeutin hat mir geholfen. Wir haben über meine Probleme geredet und Spiele zur Beruhigung gespielt. Die Therapie war wie ein Zauber, wie eine Verwandlung. Plötzlich hatte ich wieder ganz viel Spaß."

"Im Kindergarten hat sie gezittert und geklammert"

Das sagt die Mutter: "Dass meine Tochter anders ist als andere Kinder, ist so richtig aufgefallen, als wir versucht haben, sie mit dreieinhalb in den Kindergarten zu geben. Das hat leider gar nicht geklappt. Line ist ein eher ängstliches Kind, sie ist unsicher und klammert sehr an mir. Selbst im Spieletreff, zu dem wir regelmäßig gehen und wo sie alle anderen Menschen kennt, braucht sie manchmal zwei Stunden, bis sie richtig angekommen ist. Fahren wir in den Urlaub, kann sie dort kaum einschlafen, weil alles so ungewohnt ist.

Bei der Eingewöhnung im Kindergarten hat sie gezittert und geklammert. Nach zwei Wochen haben die Erzieherinnen beschlossen, dass es Zeit ist, sie von mir "abzunabeln", und die Trennung quasi erzwungen. Das hat meine Tochter überfordert. Sie wird in solchen Situationen sehr wütend, brüllt nur noch. Oder sie weint. Als ganz kleines Kind hat sie oft tagelang durchgebrüllt. Mir kommt es so vor, als wären einfach alle Gefühle bei ihr intensiver.

Ich bin der Meinung, dass meine Tochter ein typisches High-Need-Kind nach der Definition von William Sears ist. Mir ist klar, dass das alles subjektiv ist und dass er damit ein Phänomen beschreibt, das im Bereich des Normalen liegt. Mir hilft der Begriff trotzdem, vor allem, weil ich mich im Internet mit anderen High-Need-Eltern vernetzen kann und so erfahre, dass ich nicht alleine bin und nichts falsch gemacht habe. Auf www.2kindchaos.com blogge ich über meine Erfahrungen.

Von einem Fachmann habe ich meine Tochter noch nicht untersuchen lassen. Ich bin selbst Sozialpädagogin und traue mir eine kompetente Einschätzung zu. Außerdem haben wir viele schlechte Erfahrungen gemacht. Eine Erzieherin sprach gar von einer Bindungsstörung. Das kann ich mir nicht vorstellen: Ich habe nach Bedarf gestillt, sie viel getragen und war immer für sie da. Wir werden oft stigmatisiert. Wenn mir Leute sagen, dass jedes Kind mal anstrengend ist und dass das Label "High Need" Quatsch ist, kann ich nur sagen: Die sollen mal einen Tag mit Line verbringen."

Das sagt Line, 5: "Ich mag es nicht, wenn es laut ist. Wenn wir irgendwo hingehen, wo ich noch nie war, habe ich Angst."

"Mir fiel schon auf, dass sie keinerlei Vorstellung von Zahlenräumen hat"

Das sagt der Vater: "Bis zur dritten Klasse kam Leah ganz gut durch. Gut im Rechnen war sie nicht und sie hat viel die Finger benutzt oder einfach die Lösungen auswendig gelernt. Mir fiel schon auf, dass sie keinerlei Vorstellung von Zahlenräumen hat. Aber da wir zu dem Zeitpunkt noch andere Baustellen hatten, stand das nicht so im Fokus.

Doch dann wurde der Stress mit dem Rechnen immer größer. Meine Frau und ich haben ihr jeden Tag dasselbe erklärt - und dann hatte sie es wieder falsch. Wir haben uns viel gestritten, weil wir dachten, Leah ist faul, hört einfach nicht zu oder will uns ärgern. Als sie acht Jahre alt war, sind wir dann in ein pädagogisches Förderzentrum gegangen. Dort wurden diverse Tests gemacht und dann war die Diagnose klar: hochgradige Dyskalkulie. Leider hat ihre Klassenlehrerin das vollkommen ignoriert und sogar zu Leah gesagt, das sei Quatsch und sie habe das nicht.

Inzwischen geht unsere Tochter auf eine andere Schule und bekommt mathematischen Förderunterricht. Für uns war es sehr wichtig, dass uns Fachleute erklärt haben, was Dyskalkulie ist und wie wir damit umgehen müssen. Ich wusste vor einem Jahr noch nicht, dass es das überhaupt gibt. Die Ignoranz der Leute ist ein großes Problem. Legasthenie kennen alle, da gibt es sogar einen Nachteilsausgleich in der Schule. Bei Rechenschwäche nicht, das ist ungerecht."

Das sagt das Kind: "Ich habe Dyskalkulie, das ist eine Mathestörung. Ich muss deswegen oft mit den Fingern rechnen, das Einmaleins habe ich einfach auswendig gelernt, wie ein Gedicht. Aber wenn mir jemand eine Rechenaufgabe stellt, die ich noch nicht kenne, kann ich sie meistens nicht lösen. Auch wenn mir jemand zwei Zahlen nennt, weiß ich manchmal nicht, welche größer ist. Deswegen bekomme ich Förderunterricht, wo alles ganz anders und viel besser erklärt wird, wie in der Schule. Alleine Brötchen kaufen zu gehen traue ich mich trotzdem noch nicht."

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