Antonia Peters erinnert sich sehr gut an ihr erstes Mal. Wie es sich anfühlte, das Haar aufzuzwirbeln und auszureißen. Wie sich danach alles entspannte. Sie war damals elf und in der Kinderkur. "Ich hatte furchtbares Heimweh", sagt die heute 57-Jährige.
Trotzdem sollte sie sich um ihre Freundin kümmern, die ebenfalls Heimweh hatte. Das tat das Mädchen und versuchte zu verdrängen, dass sie selbst traurig war. So hatte sie es zu Hause gelernt. Stark sein, sich durchbeißen. Peters hat einen bewegungseingeschränkten Arm und zieht ein Bein nach. Ihre Eltern hatten ihr immer zu verstehen gegeben, dass ihr Geist die körperlichen Defizite ausgleichen muss.
Das gelang eine Weile ganz gut. Bis sie abends im Bett lag, sich die Haare zwirbelte, eines ausriss, darauf herumknabberte - und Erleichterung verspürte. "Eine Erzieherin bekam es mit und schimpfte, ich solle meine Haare in Ruhe lassen - und gab mir so indirekt zu verstehen: Das ist was Schlimmes, das darf man nur heimlich machen."
Eine kaum erforschte Krankheit
Also riss das Mädchen sich die Haare nur aus, wenn es niemand sah. Ging es ihr nicht gut, zog sie sich auf die Toilette zurück und rupfte dort. Oft hinter den Ohren und oft so lange, bis die Stelle kahl war. "Das war meine Beruhigungsstrategie, um meine Ängste zu regulieren", erklärt Peters.
Sich zwanghaft die Haare auszureißen, ist eine Krankheit, die häufig im Kindesalter das erste Mal auftritt. Sie heißt Trichotillomanie - zusammengesetzt aus den drei griechischen Wörtern "thrix" für Haar, "tillein" für rupfen, und "mania" für Wahnsinn. Nie gehört? Kein Wunder, die meisten Betroffenen wissen selbst nicht, dass ihre Störung einen Namen hat.
Von der Weltgesundheitsorganisation wurde Trichotillomanie schon 1991 als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt. Aber noch immer sind viele Fragen offen. "Zum Beispiel, warum so viel mehr Frauen als Männer betroffen sind", sagt der Münchner Psychotherapeut Nico Niedermeier. Auch der Grund für die familiäre Häufung ist unbekannt. Ob es eine genetische Veranlagung sei oder ob die Kinder sich das Verhalten bei den Eltern abschauten, darüber könne man nur mutmaßen. Verlässliche Daten gibt es nicht, sagt der Psychotherapeut.
Niedermeier therapierte fünfzehn Jahre lang Trichotillomanie-Patienten. "Die meisten haben spezifische Reißstellen, wie etwa hinter den Ohren oder oben auf dem Kopf", erklärt er. Manche rupfen sich auch Wimpern, Augenbrauen oder die Schambehaarung aus. Sie zupfen im schlimmsten Fall, bis es blutet. Fast alle schämen sich dafür, verstecken ihre zwanghafte Störung unter einer Mütze oder Perücke. "Haare gehören zum Schönheitsideal, die kahlen Stellen sind deshalb ein Stigma für die Betroffenen", erklärt der Psychotherapeut.