Provinz versus Metropole:Wer braucht schon Manhattan?

NATURPARK SÜDSCHWARZWALD

Der Schwarzwald: Metropolen findet man hier zwar nicht. Aber wer will, kann per Fernstudium seinen Bachelor machen.

(Foto: DPA)

Früher musste in die Großstadt ziehen, wer die Welt erleben wollte. Heute ist auch die Provinz irgendwie chic. Wie konnte das passieren?

Von Gianna Niewel, Merzig

Zwei Wochen hat sich Günter Mann gegeben - sich und New York. Das war Ende der 1970er-Jahre, vor ihm die Skyline von Manhattan, auf diesen Ausblick ein Schluck Bourbon Whiskey. Das Apartment an der 7th Avenue hätte seins werden können. 14 Tage lang wollte Mann herausfinden, ob er sich vorstellen könnte, dort zu wohnen. Beruflich war er als Marketingleiter ohnehin oft in den Staaten. New York hat den Test nicht bestanden. Die Stadt dröhnte, der Verkehr brummte, die Menschen hetzten. Nie war Ruhe.

Wenn Günter Mann heute, mit inzwischen 76 Jahren, aus dem Küchenfenster schaut, kauert sich vor ihm Merzig in den Rücken des Saargaus, 30 000 Einwohner, eine Kleinstadt. 3108 Hektar Kastanien und Fichten, 128 Hektar Seen und Flüsse. Ruhig ist es hier ziemlich oft. Natürlich werde er immer wieder gefragt, wieso er dann doch in der Provinz gebaut hat. "Provinz?" Günter Mann, schlohweißes Haar, Jeans, zuckt die Schultern. "Was soll das heute noch sein?"

Provinz - das Klischee verbindet mit dem Begriff Kleinstädte und Dörfer, die überaltern und veröden. Mit gottverlassenen Straßen, Industriebrachen, Ärztemangel. Es verbindet damit Orte, aus denen gerade die Jüngeren fliehen. Die Provinz scheint wie eine Mutter zu sein, die nicht loslassen kann. Sie vereinnahmt ihre Kinder. Schon Marx und Engels beklagten den "Idiotismus des Landlebens". Die Provinz, so beschrieb es 1975 das Kursbuch, ist ein soziales Vakuum, in dem man nicht Einzelperson ist, sondern Mitglied in einem Verein. Noch immer ist deshalb Provinz auch ein Etikett, das für Langeweile, überlebte Tradition und geistige Beschränktheit steht: für Probleme, die nicht hinterfragt werden, persönliche Animositäten, die ewig währen, dumpfe Parolen.

Aber Provinz, das meint eben auch die Summe der Gegenden, in denen mehr als 55 Millionen Deutsche leben: auf dem Land, oder zumindest abseits der Metropolen. Die Zeitschrift für Ideengeschichte widmete sich vor ein paar Monaten gleich auf 120 Seiten dem Thema, sie forderte ein "Recht auf Dorf". Soziologen holen in Streitschriften zur Ehrenrettung aus. Sie verweisen darauf, dass Dörfer wie Kleinstädte ihren Mief verloren hätten und heute die meisten der Vorzüge böten, die früher der Großstadt vorbehalten waren.

Ja, Mief mag es immer noch geben. Die AfD in Merzig im Saarland forderte bei der Kommunalwahl 2014 unter anderem, den ersten Hund von der Hundesteuer zu befreien. Dafür erhielt die Partei 5,14 Prozent der Stimmen und zwei Plätze im Stadtrat. Rechtsextreme sollen vor einiger Zeit in einem Supermarkt im Ort ein schwules Paar angegriffen haben. Aber ist es immer noch die Provinz, die Keimzelle von rechtem und rechtspopulistischem Gedankengut ist? "Heute wäre es zu pauschal, da einen eindeutigen Zusammenhang herzustellen", sagt der Parteienforscher Jürgen Falter. "Mitte der 1960er-Jahre mag es gestimmt haben, dass die NPD in Regionen wie Hohenlohe oder der Vorderpfalz erfolgreich nach Stimmen fischen konnte." Mittlerweile wohnten Menschen, die sich von der Modernisierung bedroht sehen und darauf fremdenfeindlich reagieren, aber auch in abgehängten Stadtvierteln von Bremerhaven, Stuttgart oder Saarbrücken.

Die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof strahlten

Das wird manchmal leicht vergessen, eskalierte doch im Sommer in einem Ort wie Heidenau, 16 500 Einwohner, die Gewalt zwei Nächte in Folge. Es gab Anschläge auf Asylbewerberheime in Wallersdorf, Espelkamp, Balingen. Die Liste ist lang. Und sie wirft kein gutes Licht auf "das Land", weil sie den Eindruck vom dummstolzen Hinterwäldler festigt, der nie Kontakt hatte mit Menschen anderer Hautfarbe oder Religion. In der öffentlichen Wahrnehmung sind es die Städte, die sich um Flüchtlinge kümmern, die Bilder vom Münchner Hauptbahnhof strahlten.

Dabei sind langfristig vor allem auch die kleineren Kommunen gefordert, weil dort Wohnraum vorhanden und bezahlbar ist. In Rheinland-Pfalz nehmen die Landkreise etwa drei von vier Asylbewerbern auf, auch in Baden-Württemberg überwiegt die Unterbringung in Orten wie Weingarten oder Rottenburg. Mit der Folge, dass dort die Kleiderkammer nun einmal wöchentlich öffnet, statt einmal im Monat. Auch ist da der Herrenkochklub, der Erlöse den Flüchtlingen spendet. Da sind Männer und Frauen, die sich in Fahrdiensten organisieren, um Syrer und Afghanen zum Fußballtraining in den Nachbarort zu bringen. Die Provinz entlastet die Städte. Auch sie strahlt.

Peter Weingarten leitet das Thünen-Institut für Ländliche Räume. Er sagt: "Eine strenge Unterteilung in Stadt und Land mag in den 1950er-Jahren noch gerechtfertigt gewesen sein. Heute ist sie es nicht mehr." Dass viele Gegenden auf dem Land heute so attraktiv sind wie nie, liegt daran, dass sich die Lebensverhältnisse angeglichen haben. Es ist ein Klick mit der Maus, der andere Lebensentwürfe näher bringt und Möglichkeiten aufzeigt. Man kann geschieden sein, ohne geächtet zu werden. Ein Fernstudium funktioniert im Home Office, Laptop auf dem Schoß, Blick ins Grüne. Die New York Times? Lädt man, wenn man sie will, auf dem Smartphone. So sinkt der Druck, das Dorf zu verlassen.

Für den Berliner ist Düsseldorf Provinz, in Düsseldorf schaut man auf Trier herab

Provinz also, um die Frage von Günter Mann aus Merzig nochmals aufzugreifen, was soll das heute noch sein? "Es meint noch immer das Gegenteil einer Metropole. Nur mit dem Unterschied, dass dem Leben dort das vermeintlich Provinzielle fehlt", sagt Gerhard Henkel, ein Humangeograf, früher Professor in Essen, Gründer des "Bleiwäscher Kreises für Dorfentwicklung". Er untersucht, wie sich Stadt und Land entwickeln. "Der Begriff ist nicht mehr als eine Zuschreibung, die von einer stark urbanen Sichtweise geprägt ist." Soll heißen: von oben herab.

Denn während die Bezeichnung "ländliche Räume" eine statistische Größe ist - weniger als 150 Menschen leben auf einem Quadratkilometer -, ist der Provinz-Begriff für jeden frei interpretierbar. Für den Berliner ist Düsseldorf Provinz, in Düsseldorf schaut man auf Trier herab. Von wirklich dünn besiedelten Regionen wie dem Bayerischen Wald, dem Allgäu oder dem Hunsrück ganz zu schweigen.

Henkel lässt sich gerne "Anwalt der Dörfer" nennen, er zitiert diese Bezeichnung über ihn auf seiner Website. Doch es sind nicht nur die Ortschaften und Kleinstädte, die er verteidigt. Es sind vor allem deren Bewohner. Weil eine Kleinstadt mehr ist als die Summe der Häuser, nämlich immer auch ein soziales Netz, lernen die Menschen dort noch, für verbindliche Freundschaften einzustehen. "Man kennt sich", das meint insbesondere: das Versprechen, sich zu kümmern.

Die Provinz ist für ihn viel eher wie eine fürsorgliche Mutter. Sie behütet ihre Kinder. Als 1945 Städte wie Dresden, Köln und Düsseldorf in Trümmern lagen, war der Neuaufbau zunächst vor allem im Umland möglich. Das lateinische pro vincia, gebildet aus pro und vincere, für und siegen, meinte ursprünglich den Aufgabenbereich derer, die außerhalb der Metropole Roms die Geschicke leiteten. Es lässt sich mit Kompetenz übersetzen.

"Hidden champions" heißen heute Unternehmen auf dem Land, auf der Schwäbischen Alb oder in Ostwestfalen, die eher unbekannt sind, obwohl sie so erfolgreich sind wie kaum einer ihrer Konkurrenten auf der Welt. Mit den Maschinen von Herrenknecht wurde am Gotthard-Basistunnel in der Schweiz gebohrt; das Unternehmen sitzt in Schwanau, Baden-Württemberg. Der Saatguthersteller KWS Saat produziert in Einbeck, Niedersachsen. Kohlpharma, der größte deutsche Arzneimittelimporteur, beschäftigt 800 Mitarbeiter in Merzig. Die Medikamente werden von dort an Großhändler in ganz Deutschland geliefert.

In die Großstadt ziehen für die Ausbildung? Notwendig ist das nicht mehr

Fährt man von den riesigen Hallen aus über die Saar, kommt man in den Stadtteil Hilbringen. Der Weg dorthin führt vorbei am Industriegebiet und Burger King. "König Kebab" hat noch immer die Rollläden unten, am Haus nebenan blättert der Putz. Der Weg dorthin führt auch vorbei am Stadtpark und am Sportboothafen. An ihrem Stand verkauft eine Frau Feldsalat und Fleischtomaten. Ab und an verirren sich Touristen her. Sie interessieren sich allerdings kaum für das Gemüse. Sie fotografieren das Zuhause von Raphaela Wagner, ein kleines Barockschloss im Ortskern: hohe Fenster, weiß gestrichene Läden, im Sommer klettert Blauregen die Fassade entlang. Ist das Foto geschossen, verschwinden sie wieder. Raphaela Wagner bleibt. Sie ist 24 Jahre alt und gehört einer Generation an, die sich sämtlichen Studien zufolge nicht nur nach dem urbanen Lifestyle sehnt, sondern sich davon in die nächste Großstadt locken lässt. Wegen der Ausbildungsmöglichkeiten, wegen Kunst und Kultur.

Studien? Wagner lacht. Sie studiert Jazz-Bass in Luxemburg, ans Konservatorium fährt sie mit dem Auto nicht einmal eine Stunde. Wenn sie keine Lust hat, das Haus zu verlassen, liefert Amazon bis zur Wohnungstür. Die Tagesschau um 20 Uhr im Fernsehen kann sie rund um die Uhr online streamen, mit Freunden schreibt sie bei Facebook. "Ja, natürlich hätte ich nach München oder Hamburg ziehen können", sagt sie, und man versteht: Notwendig ist das nicht mehr. Überhaupt, während in Berlin darum gerungen wird, die Homo-Ehe gleichzustellen, ärgert sich Wagner ausgerechnet auf dem Land kaum über verkrustete Wertvorstellungen.

Als sie mit ihrer Freundin Umzugskisten in die erste gemeinsame Wohnung im Hilbringer Schloss schleppte, haben die Nachbarn im Treppenhaus nicht die Stirn gerunzelt. Sie würden auch dann nicht abschätzig schauen, wenn sie mit der Freundin an der Hand durch die Kleinstadt spaziert. Homosexualität auf dem Land, für sie ein Problem? "Nein", sagt Wagner. Kurze Pause. "Wirklich nicht." Das letzte Mal, dass sie ein Fremder beschimpft hat, weil sie eine Frau küsst, das sei in der Stadt gewesen.

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