Protest:Brief für die Freiheit

Michael Heinisch

Michael Heinisch (li.) und Stefan Müller vor der chinesischen Botschaft.

(Foto: Verena Mayer)

Zu DDR-Zeiten protestierte Michael Heinisch gegen das Massaker am Tiananmen-Platz. 30 Jahre später zieht er wieder zur chinesischen Botschaft.

Von Verena Mayer

Ein Mann hat einen Brief geschrieben. Er setzt sich darin für die Menschenrechte in China ein, und jetzt läuft er zielstrebig auf die chinesische Botschaft in Berlin zu, um dort zu klingeln und sein Schreiben dem Botschafter zu übergeben. Ein Aktivist, wie es so viele in Berlin gibt, noch dazu am Dienstag dieser Woche. Es ist der 4. Juni, der Tag, an dem sich das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens zum 30. Mal jährt, vor der chinesischen Botschaft steht bereits eine Gruppe Menschen, die mit Transparenten gegen das Vergessen protestieren.

Und doch steckt hinter der kleinen Aktion eine große Geschichte. Denn der Mann ist nicht zum ersten Mal mit einem solchen Text unterwegs. Schon vor genau 30 Jahren wollte er einen Brief zur chinesischen Botschaft bringen, die damals in Ostberlin lag, der Hauptstadt der DDR. Damals kam der Mann nicht weit. Die Stasi nahm ihn mit und prügelte ihn krankenhausreif. An diesem heißen Junimorgen 2019 ist er nun wieder unterwegs.

Michael Heinisch ist 55 Jahre alt, ein bulliger Mann in Lederjacke, dem man ansieht, dass er schon viel erlebt hat. Wie es zu dem Brief kam und was er ausgelöst hat - das ist eine dieser Geschichten, wie es sie nur im geteilten Deutschland gab. Eine Geschichte über Proteste und die Folgen, über staatliches Unrecht und die Macht der Demokratie. Eine Geschichte, die in der Vergangenheit spielt, heute aber aktueller ist denn je.

Michael Heinisch kommt zum Interview in eine Bäckerei am S-Bahnhof Jannowitzbrücke gestapft. Er stellt eine Schale Erdbeeren auf den Tisch und beginnt zu erzählen. Heinisch ist Sozialdiakon und arbeitet für die Soz-Dia-Stiftung in Berlin. Im Juni 1989 war er gerade mit dem Studium fertig und Mitte zwanzig, "im besten Alter für so eine Sache", sagt er. Heinisch war Bürgerrechtler in der DDR, zusammen mit zwei, drei Dutzend Gleichgesinnten im Umfeld der evangelischen Kirche aktiv, es ging um Frieden und Demokratie. Die DDR-Obrigkeit verfolgte ihn deswegen seit Jahren, auf seiner Stasi-Akte stand: "Operativer Vorgang Protestant". Heinisch kann sich noch gut erinnern, wie es war, wenn er aus seiner Wohnung in der Kastanienallee in Prenzlauer Berg kam: Zehn, fünfzehn Stasi-Leute standen schon da, dazu ein Bauwagen. Und wenn er mal zu ungeplanten Zeiten unterwegs war, etwa um Brötchen zu holen oder ein Bier trinken zu gehen, wurde er festgehalten. Heinisch ließ sich davon nicht beirren, im Westfernsehen verfolgte er, was auf dem Tiananmen-Platz passierte. Wie die Studenten kamen, auf dem Platz kampierten, für die Freiheit demonstrierten, wie es immer mehr und mehr Menschen wurden. Ein Hoffnungszeichen sei das für Leute wie ihn gewesen, sagt Heinisch, dafür, dass die kommunistischen Systeme bröckelten, "wir waren nur ein wenig neidisch, dass die Studenten in Peking so viele waren und wir nur zwanzig, dreißig".

Stasi-Leute schlugen ihn so heftig auf den Asphalt, dass er bewusstlos wurde

Als schließlich die Nachricht kam, dass in Peking die Panzer auffuhren, war ihm sofort klar, dass er etwas tun wollte. Im Demo-Modus war er ohnehin schon, Heinisch gehörte zu jenen Ostberlinern, die bei den Kommunalwahlen den Behörden beim Auszählen zuguckten (was nach DDR-Recht erlaubt war) und dabei feststellten, dass die 98,85 Prozent Zustimmung für die SED nicht ganz stimmten. Weswegen Heinisch auch erst vom 8. Juni an dazu kam, sich gegen das Massaker am Tiananmen-Platz zu engagieren - davor war er wegen der Wahl-Sache in Haft gewesen. Heinisch zieht aus seinem Rucksack den Brief von damals hervor, adressiert an den Präsidenten der "VR China". "Wir sind entsetzt und fassungslos über die Fortsetzung des Terrors, den Sie am chinesischen Volk ausüben", beginnt er. Ein Mann kommt zum Treffen mit Heinisch hinzu. Er guckt auf das Blatt und erkennt sofort seine Schreibmaschine. Es ist Stefan Müller, einer von Heinischs Mitstreitern damals. Die beiden fangen an, über die alten Zeiten zu reden, mit vielen Scherzen, so wie man über eine Abifahrt spricht. Sie hätten Glück, dass sie heute darüber lachen könnten, sagt Müller, viele andere Regimegegner seien gefoltert und weggesperrt worden.

Auch das sei ein Grund, warum er und Heinisch hier sind: Weil er erschrocken sei, wie wenig sich die Leute inzwischen für Demokratie interessieren, wie selbstverständlich sie ihre Freiheit und Rechte hinnehmen. Und das in Zeiten, in denen das Totalitäre zurückkehrt. Müssen also die alten Bürgerrechtler wieder ran? Schon, sagt Heinisch. "Demokratie findet nicht nur bei uns selbst statt, sondern auch bei Freunden und Nachbarn." Und deswegen setze er sich eben auch für die Chinesen ein.

Am 22. Juni 1989 sind sie dann in Ostberlin mit ihrem Brief losgezogen. Auf dem Weg zur chinesischen Botschaft wurde die Gruppe von der Stasi abgefangen, Heinisch wurde so heftig mit dem Kopf auf den Asphalt geschlagen, dass er beim Verhör bewusstlos wurde. Als er wieder nach Hause durfte, warteten dort schon Dutzende Leute. Der Protest wurde größer, verlagerte sich in eine Kirche, immer mehr Leute kamen. Den Aktionen gegen das Massaker in China folgten weitere, die Proteststimmung zog sich bis in den Herbst 1989 und mündete schließlich in die friedliche Revolution. Wobei sie bis zuletzt Angst vor Panzern gehabt hätten, sagt Heinisch. "Die haben uns spüren lassen, dass sie sich eine chinesische Lösung vorstellen können."

Die beiden Männer stehen auf und gehen zur chinesischen Botschaft, die wie eine weiße Trutzburg daliegt. Heinisch holt seinen neuen Brief hervor, in dem er unter anderem dagegen protestiert, wie in China Kritiker zum Schweigen gebracht werden. Man fühle "sich bis heute den für Freiheit und Recht streitenden Menschen in China verbunden". Heinisch klingelt, ein Wachmann kommt zum Zaun und verschwindet mit dem Brief im Gebäude. Wenige Minuten später erscheint er wieder und drückt Heinisch den Brief in die Hand. Das hier werde nicht angenommen, sagt er. Das sei ja ein klares Statement, sagt Michael Heinisch. Er wirkt, als würde er eines Tages wiederkommen.

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