Süddeutsche Zeitung

Prantls Blick:Am Anfang war das Wort, nicht die Kirchensteuer

Das Luther-Jahr steht vor seinem Schluss- und Höhepunkt. Warum immer Reformation ist.

Die politische Wochenvorschau von Heribert Prantl

Jeden Sonntag beschäftigt sich Heribert Prantl, Mitglied der Chefredaktion und Ressortleiter Innenpolitik der SZ, mit einem Thema, das in der kommenden Woche - und manchmal auch darüber hinaus - relevant ist. Hier können Sie "Prantls Blick" auch als wöchentlichen Newsletter bestellen - exklusiv mit seinen persönlichen Leseempfehlungen.

dieser Brief handelt vom großen Feiertag, der uns bevorsteht, dieser Brief handelt von Martin Luther, er handelt von der Reformation und vom 500. Reformationsjubiläum; er handelt auch davon, welche Reformation wir heute brauchen.

Mir fällt, wenn es um Religion und Glauben geht, gern meine Großmutter ein, die eine Bauersfrau in der Oberpfalz und tiefgläubige Katholikin war: Als sechsjähriger Bub saß ich bei ihr am Lehnstuhl, als zwei Leute ans Fenster klopften. Großmutter öffnete das Fenster und fragte nach dem Begehr, worauf sie der Großmutter feierlich verkündeten: "Frau Prantl, wir bringen Ihnen den wahren Glauben". Großmutter Maria überlegte kurz und sagte dann ebenso freundlich wie bestimmt: "Den hamma scho" ... also: den haben wir schon. Und machte das Fenster wieder zu.

Die zwei Missionare waren nun keine Lutherischen gewesen, sondern Zeugen Jehovas. Aber den Lutherischen hätte die glaubensstolze Großmutter das Gleiche gesagt. Auch ich selber habe Martin Luther erst viel später schätzen gelernt: Der Theologe Luther ist gewiss der wirkkräftigste Journalist, den es je in Deutschland gegeben hat. Er war ein Medien- und Sprachereignis. Er war ein Publizist von einer Wirkkraft, die alle anderen klugen Wirkkräftigen blass dastehen lässt, Karl Marx ausgenommen. Seine modernen Verehrer sagen, Luther wäre heute ein begnadeter Twitterer und Blogger. Mag sein. Aber man braucht solche Krücken nicht, um die Genialität dieses Mannes zu begreifen. Luther hat die Bibel in eine Sprache übersetzt, die es vorher nicht gab; er hat diese Sprache geschaffen. Seit Luther, seit seiner Übersetzung, heißt die Bibel hierzulande schlechthin "die Schrift".

Die Feiern zum 500. Jubiläum der Reformation nähern sich nun dem Finale: Vor uns liegen nächste Woche und am nächsten Wochenende Festgottesdienste, Staatsakte; zum Halbjahrtausendjubiläum ist das Reformationsfest in diesem Jahr ja bundesweit ein Feiertag.

Die Gläubigen heute müssen und dürfen Luthers Weltbild nicht übernehmen

Zum großen Reformationsjubiläum gab und gibt es eine Fülle von Versuchen, auch dem Menschen Martin Luther etwas näherkommen, in Artikeln, in Bühnenstücken, in Ausstellungen. Dieser Mensch Martin Luther war ein Mensch voller Widersprüche: ein Angsthase. Ein Todesmutiger. Ein Rechthaber. Ein Depressiver. Ein Zweifler. Ein Besserwisser. Ein Überzeugungstäter. Ein Hartnäckiger. Ein Charismatiker. Ein Choleriker. Ein Lustmensch. Ein Selbstquäler. Ein Judenhasser. Ein Aufrührer. Ein Fürstenknecht. Der Mensch Martin hatte viele Gesichter. Aber weil er das Glück oder Pech hatte, zu einer Art protestantischem Heiligen zu werden - wie genüsslich würde er darüber spotten - machte und macht man sich ihn so zurecht, wie es am besten zu den eigenen Interessen passt. Den Nationalisten wurde er ein Nationaler, den Anti-Ökumenikern ein Katholikenfresser, den Liberalen ein Freiheitskämpfer, den Verspielten eine Playmobilfigur. Und für die, denen das alles auf den Keks geht, gibt es heute Lutherkekse zu kaufen. Der Mensch Martin Luther ist uns nicht mehr nah. Er ist uns 500 Jahre fern, ein Mensch des Mittelalters.

Glauben im Sinne Luthers heißt heute nicht glauben, was Martin Luther glaubte. Was Martin Luther glaubte, war geprägt von dem Weltbild, von der Teufelsangst, von den Kämpfen seiner Zeit. Die Gläubigen heute müssen das nicht übernehmen. Sie dürfen das nicht übernehmen.

Luther war ein Protestant, der gegen eine Kirche protestierte, welche die Seligkeit als Geschäftsmodell handelte. Er wollte keine Reformen, sondern eine Rückbesinnung auf die biblischen Grundlagen des Glaubens. Dieses Anliegen hat er so leidenschaftlich verfolgt wie Jesus, der mit heiligem Zorn im Tempel steht, eine Geißel aus Stricken in der Hand, der die Tische umwirft und das Kerngeschäft der Händler und Geldwechsler aus dem "Haus des Vaters" hinauswirft.

Vor 500 Jahren hat Luther der Überlieferung nach seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel angeschlagen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Das war der Beginn einer Reformation, einer Erneuerung, die es immer und immer wieder geben muss. Womit fängt Reformation heute an, 500 Jahre später?

Der Mensch braucht Ordnung im Chaos; er braucht eine Lebensgrundlage

Die gegenwärtigen kirchlichen Reformvorhaben setzen beim Mangel an. Sie setzen an beim Mitglieder- und Kirchensteuermangel. Sie fangen mit der Angst an, mit der Angst vor Bedeutungsverlust. Sie fangen mit dem Ziel an, den Mangel zu beheben, den angeblichen Mangel an Geld, den Mangel an Mitgliedern, den Mangel an Religiosität, den Mangel an christlichem Wissen. Vielleicht ist das der graduelle Unterschied zwischen Reform und Reformation. Die Reformen von heute setzen an beim Mangel und bei der Angst. Eine Reformation aber hat ihren Anfang in der Gewissheit und in der Leidenschaft. Reformation fängt damit an, dass Menschen für etwas brennen, dass der Glaube bei ihnen zündet. "Im Anfang war das Wort." So beginnt Weihnachten beim Evangelisten Johannes. Worte wie Hammerschläge waren auch die Thesen aus Wittenberg, die die Welt veränderten. Wenn das Wort nicht mehr zündet, erlischt die Kirche. Im Anfang war das Wort; nicht die Kirchensteuer.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Kirche aufgefordert, ihre Hoffnung nicht auf Privilegien zu setzen, die ihr von der staatlichen Autorität angeboten werden. Das gilt immer noch, das gilt auch für die Evangelische Kirche. Im Anfang war das Wort, nicht die Kirchensteuer. Im Anfang war das Wort: Es ist dies die Aufforderung, auf das Wort zu achten und auf das Wort zu setzen, auf die Kraft des Wortes. Im Anfang war das Wort. Das berühmte Johannes-Evangelium zitiert die ersten Worte der Bibel, die Genesis: "Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde; die Erde war wüst und wirr." Wo Wirrnis ist, schafft Gott also Ordnung - er erschafft den Tag und die Nacht, das Meer und das Land, die Himmelsgestirne, Fauna, Flora und schließlich den Menschen. Geschaffen wird eine bewohnbare Welt. Und jeweils beginnt der Schöpfungsgott sein neues Werk mit dem Wort: "Es werde!" Es werde. Das ist Reformation. Es werde immer wieder. Die Botschaft dabei ist: Der Mensch braucht Ordnung im Chaos; er braucht eine Lebensgrundlage; er braucht Heimat; die Welt soll ihm solche Heimat sein. Das ist die Reformation - die nicht die Form der Kirche, sondern die Form der Welt erneuert.

Es fehlen immer noch Worte, die die Kirchenspaltung überwinden

Es muss Transparenz in undurchsichtige Zustände; und die Willkür muss dem Recht weichen. Es geht um die Bedingungen, die Leben überhaupt möglich machen - nicht nur am Nullpunkt der Zeit, sondern immer und immer wieder: Anfang ist immer wieder. Schöpfung ist ja nicht nur etwas, was einmal war; sie muss tagtäglich neu geschehen, um das Leben in einer Welt von Krieg, Not, Gewalt und Ungerechtigkeit möglich zu machen. Das ist auch eine Aufgabe der Kirche. Es gibt überall unfriedliches Leben - nicht nur in Syrien und Afghanistan; auch mitten in Europa. Und es gibt überall Kirche und Kirchen, zu deren Aufgabe es gehört, den Frieden zu stärken und den Frieden zu finden.

Im Anfang war, im Anfang ist das Wort. Es fehlen immer noch die richtigen Worte. Die katholische Kirche steckt, der Missbrauchsskandale wegen, in der tiefsten Vertrauenskrise seit der Reformation; und der evangelischen Kirche geht es auch nicht sehr berauschend. Wenn in dieser Krise eine Chance steckt, dann die, die fünfhundertjährige Spaltung zu überwinden: Jede Konfession soll zwar ihre verschiedenen Traditionen und Glaubensprägungen bewahren, aber man muss in Respekt, Freundschaft und Gemeinschaft miteinander sein. Es ist ja nicht simpel so, dass vor 500 Jahren einfach ein Mönch aus Wittenberg die Kirche, die eine, heilige, gespalten hätte. Sie wurde gespalten auch von der Hybris des römischen Katholizismus, von ihrem dogmatischen Stolz und von ihrem feierlichen Anspruch, die einzig wahre Kirche zu sein. Daraus wiederum leiten viele evangelische Christen ihr eigenes Profil und ihr Selbstverständnis ab, ihr Eigentliches: in der Anti-Papst-Haltung. Reformation ist heute, diese Sturheiten abzulegen.

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