Süddeutsche Zeitung

Präimplantationsdiagnostik:Der Babymacher

In Belgien verlassen sich viele Frauen nicht auf ihr Glück, sondern auf Reproduktionsmediziner wie Paul Devroey. Dort ist Präimplantationsdiagnostik längst Alltag. Und Krankheit ein Ausschlusskriterium.

Dominik Stawski

Vier Kinder hat Regina Streilein, und alle sind gesund. Andere Eltern nennen so etwas ein Glück. Regina Streilein aber hat nicht einfach Glück gehabt, sie hat für dieses Glück gesorgt. Im Jahr 2006 ist sie zum ersten Mal in die Brüsseler Universitätsklinik gefahren und dann noch viele Male in vielen Jahren.

Mehr als die Hälfte der Embryonen, die von ihr stammten und von Ärzten untersucht wurden, hatten einen schweren Gendefekt. Diese Embryonen hat sie dann nicht ausgetragen, und darüber ist sie heute froh. Die Sache ist nur: Regina Streilein, 39, hat diesen Gendefekt selbst. Hätten ihre Eltern damals schon tun können, was sie später tat, sie wäre heute nicht am Leben.

Universitätsklinik Brüssel. Jeder Embryo hat hier eine eigene Schublade, groß wie ein Schuhkarton. Drinnen beträgt die Temperatur 37 Grad, das entspricht der Körpertemperatur. Die braucht der Embryo, damit er wächst. Es klingt selbstverständlich. Aber was ist schon selbstverständlich, wenn ein Embryo in einer Schale schwimmt - in einem klimatisierten Stahlschrank, der die Gebärmutter ersetzen soll?

Das Labor liegt im Brüsseler Nordwesten. Backsteinbau, zweiter Stock: Abteilung Reproduktionsmedizin. Eine Art Hochsicherheitstrakt, in den man nur mit sterilem Kittel, Mundschutz und grünen Überschuhen hinein darf. Solche Labore gibt es auch in Deutschland, aber in Brüssel arbeiten sie ein wenig anders.

Acht Zellen befinden sich in jeder Schale. Acht Zellen, aus denen ein Mensch werden soll. Unter einer Voraussetzung: Dieser Mensch muss gesund sein. Das ist der Auftrag. Deswegen untersuchen sie die Embryonen, ziehen ihnen unter dem Mikroskop mit einer Pipette eine der Zellen heraus. Ist die Zelle gesund, kann der Embryo der Frau eingesetzt werden. Wird ein Gendefekt festgestellt, landet er im Mülleimer oder wird für Forschungszwecke verwendet. Vorne an der Schublade steht, von wem der Embryo stammt. Eine Verwechslung wäre das Peinlichste, was ihnen hier passieren könnte. In England hat eine weiße Frau deshalb schon einmal schwarze Zwillinge bekommen.

Mehrmals am Tag wenden die Ärzte im Brüsseler Labor die Präimplantationsdiagnostik an, kurz PID. Im deutschen Embryonenschutzgesetz findet man keine Zeile dazu. Es gibt einen Paragrafen über die missbräuchliche Verwendung von Embryonen, drei Jahre Haft nennt er als Strafe. Ein Berliner Arzt hat die PID vor einigen Jahren trotzdem angewandt und damit 2010 ein Urteil des Bundesgerichtshofs erzwungen. Die Richter sprachen ihn frei. Seit dem Urteil gilt die PID zumindest in bestimmten Fällen als erlaubt. Nur wissen viele deutsche Ärzte nicht, bei welchen Krankheiten sie angewendet werden darf und bei welchen nicht. Kritiker wie Bundeskanzlerin Angela Merkel wollen ein klares Verbot.

"Viele Deutsche verstehen die PID falsch. Ich will nicht Gott spielen. Ich will unerträgliches Leid verhindern." So sieht es Paul Devroey. Der Chef der Abteilung Reproduktionsmedizin ist einer der gefragtesten Babymacher der Welt. Auch bei den Deutschen. So lange es in Deutschland keine klare Regelung gibt, fahren viele Paare zu ihm nach Brüssel. Mehr als 200 im Jahr fragen nach einer Behandlung, etwa ein deutschen Paar pro Woche lässt Embryonen per PID testen. In den Stahlschränken ist zurzeit kein Platz mehr frei. Über die Embryonen darin sagt Devroey: "Sie sind für mich potentielle Menschen. Wenn ich einen aus dem Schrank nehme, stirbt er."

Devroeys Büro ist düster. Nur eine kleine Schreibtischfunzel brennt, weil er sich in der Dunkelheit besser konzentrieren kann. In den dunklen Ecken seines Zimmers stapeln sich Akten.

64 Jahre ist er alt, im kommenden Jahr geht er in Rente. Devroey weiß nicht, wie viele Kinder schon mit seiner Hilfe auf die Welt gekommen sind. Er weiß auch nicht, wie viele durch ihn und die PID eben nicht auf die Welt gekommen sind. Er sagt, er könnte jetzt eigentlich Ruhe geben, sein letztes Jahr in der Klinik "runterarbeiten" und sich schon mal an den Ruhestand gewöhnen. Aber er mag nicht. Vor seiner Rente will Paul Devroey den Deutschen noch erklären, dass es fahrlässig und dumm wäre, die PID zu verbieten.

Vor ein paar Wochen ist Devroey nach Berlin gereist. Der deutsche Ethikrat hatte ihn zu einer Diskussion über die PID eingeladen. Es war kein gemütlicher Ausflug. Devroey fragte, warum die Abtreibung nach einer Fruchtwasseruntersuchung in der 14. Schwangerschaftswoche erlaubt sein soll, die PID an einem achtzelligen Embryo aber nicht. Er nannte es "eine Schande", dass deutsche Patienten zu ihm nach Belgien fahren müssten, demütigend für die Frauen, und diskriminierend, weil es sich nur Reiche leisten könnten. Die Gegenseite schleuderte ihm die Worte "Selektion" und "Designerbabys" entgegen. Wo hört man auf, wenn man einmal damit angefangen hat?

Devroey holt eine Postkarte aus seiner Tasche. Sie stammt von Eltern aus Ecuador, die sich für ihr gesundes Kind bedanken. Danksagungen hängen auch an den Wänden des Labors, sogar hinter den Mikroskopen. Sie kommen aus Toledo, dem Zillertal, Tirol, Florida, Senegal, Brasilien und auch aus Deutschland. Mehr als tausend Kinder sind nach einer PID in Brüssel auf die Welt gekommen. Devroey ist ein nüchterner Mensch, er spricht langsam. Immer wieder greift er sich mit den Fingern an die Schläfen, als meditiere er. Er sagt: "Was wir hier tun, das ist ein unfassbares Glück für die Eltern."

Der Genfedekt, den Regina Streilein in sich trägt, wird mit ALD abgekürzt. Das steht für Adrenoleukodystrophie. Ein Wort, das sich kaum aussprechen lässt. Wenn sie am Telefon über ihre Krankheit spricht, dann klingt das nach Biologieunterricht. Streng sachlich.

ALD ist nur ein kleiner Fehler im Chromosomensatz, aber er verursacht eine schwere Stoffwechselkrankheit, die das Nervensystem im Gehirn befällt. Regina Streilein hat noch Glück gehabt, sie ist eine Frau. Bei Frauen bricht ALD so gut wie nie aus, sie geben den Defekt aber mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent an ihre Kinder weiter. Wie das ist, wenn ALD ausbricht? Sie wird es nie vergessen.

Ihr jüngerer Bruder starb 1983, er war neun Jahre alt. Sein Leben blühte nicht auf wie bei anderen Kindern, es verwelkte langsam. In der Schule rutschte ihm der Füller immer öfter von der Linie, dann fiel ihm das Gehen schwer. Irgendwann konnte er nicht mehr sehen und nicht mehr hören. Regina Streilein sah ihrem Bruder beim Sterben zu. Als er beerdigt wurde, war sie elf. Niemand wusste, woran er gestorben war, bis zur Obduktion. Die Eltern ließen danach auch Regina testen. Seitdem weiß sie, dass sie ALD hat. Seitdem weiß sie auch, dass sie den Defekt an ihre Kinder weitergeben kann.

Regina und Christoph Streilein haben vier Kinder. Eine Tochter und drei Drillingsjungen, die gerade ihren ersten Geburtstag gefeiert haben. ALD? "In unserer Familie wohl ausgerottet", sagen sie.

Es gibt jetzt den Vorschlag, in Deutschland eine Liste aufzustellen wie in Großbritannien. Auf dieser Liste sollen die Krankheiten stehen, die eine PID zulässig machen. ALD würde wohl darauf stehen, denn in vielen Fällen führt der Defekt noch vor der Pubertät zum Tod. Aber was ist mit der Nervenkrankheit Chorea Huntington? Auch diese Krankheit schädigt das Gehirn, doch meist bricht sie erst um das 40. Lebensjahr aus und führt dann innerhalb von etwa 15 Jahren zum Tod. Der Mensch führt also jahrzehntelang ein gesundes Leben. Soll Huntington deswegen nicht auf die Liste? Wer soll darauf die Antwort geben?

In Brüssel haben sie auch eine Liste. Nur wird sie immer weiter ergänzt. Jeder wird untersucht, der mit einer neuen Krankheit kommt, die Krankenkasse zahlt. Die Ärzte beraten bei jeder einzelnen Krankheit, ob eine PID zulässig sein soll. In einem Ethikgremium diskutieren sie die Fälle. Huntington steht auf der Liste, genauso wie 120 andere Krankheiten. Wenn eine Mutter unter einem Syndrom leidet, das Brustkrebs wahrscheinlicher macht, dann steht ihr die PID zu. Genauso beim Klinefelter-Syndrom, einer Störung der Geschlechtschromosomen, die unfruchtbar macht, aber nicht tödlich ist. Wo verläuft die Grenze?

In Brüssel spricht Paul Devroey von einer "ernsthaften Krankheit", die vorliegen müsse. Das ist eine ziemlich dehnbare Definition. Es gehe nicht darum, elterliche Vorlieben wie Geschlecht und Augenfarbe des Kindes mit Hilfe von PID zu befriedigen, fährt Devroey fort: "Wir wollen nur Leid verhindern." Auch dieser Satz ist ziemlich dehnbar.

Es gibt Leute, die werfen der Brüsseler Klinik und Paul Devroey vor, die PID sei für sie einfach ein gutes Geschäft. Der Arzt weist das weit von sich. Ein einziger PID-Versuch koste ein Paar mehr als 10.000 Euro. Damit seien aber lediglich die Kosten gedeckt, mehr nicht. Paul Devroey sagt, er verdiene 6000 Euro im Monat, und das dürfe jeder wissen.

Die Streileins konnten es sich leisten, nach Belgien zu fahren. Sie sind beide berufstätig und haben das Geld gespart. Sie finden es grotesk, dass man es ihnen und anderen Paaren in Deutschland so schwer macht. Dass die Rechtslage nach wie vor ungeklärt ist. Die Belgier trauten sich nicht einmal, einen Brief an den deutschen Gynäkologen zu schicken, in dem sie ihn über die Patientengeschichte von Regina Streilein und die PID aufklärten.

Was wäre passiert, wenn es die PID vor 40 Jahren schon gegeben hätte? Regina Streilein denkt lange nach über die Frage. Schließlich sagt sie: "Dann wäre die Krankheit früher ausgerottet gewesen. Und ich hätte das alles nicht miterlebt."

Die Wahrheit ist, es gibt auf diese Frage keine Antwort.

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SZ vom 10.03.2011/vs
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