Süddeutsche Zeitung

Portrait einer SOS-Kinderdorfmutter:Mama mit Vertrag

Warum sich eine alleinstehende Frau hingebungsvoll um eine sechsköpfige Familie kümmert, die nicht ihre ist: Ein Besuch im SOS-Kinderdorf.

Sarina Pfauth

Diese Kinder, sagt Anke Hertzsch und schneidet weiter Bananen in den Obstsalat, diese Kinder seien eben tief verletzt worden. Dafür müsse man Verständnis haben. Ihre sechs Kinder machen manchmal Dinge kaputt, die ihnen eigentlich wichtig sind - ohne offensichtlichen Grund.

Anke Hertzsch spricht von den Kindern, die ihr anvertraut sind: drei Mädchen und drei Jungen, die Jüngste ist drei Jahre alt, die beiden ältesten sind neun und gehen in die zweite Klasse der örtlichen Grundschule. Anke Hertzsch ist Kinderdorfmutter. Sie lebt mit Dominic, Nancy, Elias, Camillo, Saskia und Celina in einem Haus in Dießen am Ammersee, unter vielen anderen SOS-Familien.

In den 15 deutschen Dörfern des international tätigen Sozialwerks "SOS Kinderdorf e.V." leben Jungen und Mädchen, anders als in vielen anderen Heimen, im Familienverband. Die Kinderdorfmütter sind qualifizierte sozialpädagogische Erzieherinnen und Erzieher, die zwar einen gewöhnlichen Arbeitsvertrag mit Urlaubsanspruch - aber nicht nach acht Stunden nach Hause gehen, sondern in der SOS-Familie zuhause sind und die Mutterrolle für die Kinder übernehmen.

Die Kinder, die hier wohnen, sind Sozialwaisen. Das bedeutet, dass ihre leiblichen Mütter und Väter an der Aufgabe gescheitert sind, sich um ihre Söhne und Töchter zu kümmern, so dass der Staat eingreifen musste. Um die Kleinen zu schützen, verrät das SOS-Kinderdorf nichts über ihre Vergangenheit, nur so viel: Sie hatten alle eine schwere Vergangenheit. Eine sehr junge Seele verkraftet es nicht gut, wenn ihr so weh getan wird. Manchmal, erzählt Anke Hertzsch, reicht ein kleiner Anlass, um die alten Verletzungen an die Oberfläche zu holen.

An vielen Tagen sind die sechs aber einfach nur: Kinder. Es ist Montag, die drei Kindergartenkinder sitzen schon am Tisch. Saskia stochert in ihrem Essen, Elias berichtet aufgeregt von seinem kaputten Spielzeughubschrauber, Nancy will ausnahmsweise mal gefüttert werden.

Die Kleinen haben dann Mittagsruhe, im Esszimmer sitzt schon die zweite Schicht, die drei Schulkinder. Celina hat eine Einladung zum Kindergeburtstag ihrer besten Freundin bekommen. Ob sie hindarf? Anke Hertzsch, die nebenbei versucht, den Kinderarzt wegen einem Termin zu erreichen, schaut in den Kalender und nickt. Ohne den Kalender funktioniert hier gar nichts.

Manchmal wird sie gefragt: Wie machst du das mit den sechs Kindern? Wenn sie dann erzählt, dass eine Erzieherin, eine Familienhelferin, eine Hauswirtschafterin und zu 50 Prozent auch noch ein Sozialpädagoge an ihrer Seite mit der Familie arbeiten, dann fragen die Leute: "Und was machst du dann?"

Das Leben in einem SOS-Kinderdorfhaus hat Ähnlichkeiten mit dem Alltag einer ganz normalen Großfamilie - doch einiges ist eben auch anders. Wer in Deutschland Kinder betreut, die nicht seine eigenen sind, hat viel Bürokratie zu bewältigen. Die Vormittage sind ausgefüllt mit Teamsitzungen, der Besprechung von Erziehungsplänen, Einkäufen, Therapeutengesprächen - und irgendjemand muss sich ja auch noch ums Mittagessen kümmern. Die Büroarbeit bleibt oft liegen, die erledigt Hertzsch dann abends, wenn die Kinder im Bett sind.

Als die SOS-Kinderdörfer nach dem zweiten Weltkrieg gegründet wurden, hatten die SOS-Mütter neun Kinder - und keine Helfer. "Aber die Kinder und die Verhältnisse, aus denen sie kommen, haben sich geändert", sagt Hertzsch. Zu Beginn lebten vor allem Kriegswaisen in den Häusern - heute sind es Sozialwaisen, die mit den Folgen von Verwahrlosung und oder Gewalt leben müssen.

Wenn möglich, verbringen die Kinder ihre Ferien bei den leiblichen Eltern auch wenn deren Verhältnisse oft so prekär sind, dass mit einer endgültigen Rückkehr in die Ursprungsfamilie kaum gerechnet werden kann. Bei einem der Kinder in der Hertzsch-Familie scheint das nun doch zu klappen: Elias darf im Sommer zu seinem Papa ziehen. "Er ist drei Jahre dagewesen - es fällt schwer, ihn gehen zu lassen. Aber wenn es für ihn das Beste ist, tu ich das natürlich guten Gewissens. Er soll den Platz finden, an den er gehört."

Anke Hertzsch - die Haare kurz, Jeansbluse, rote Fleecejacke, Brille - ist mit einer Schwester und einem Bruder aufgewachsen. Nach der Schule machte eine Ausbildung zur Erzieherin, dann ging sie für zweieinhalb Jahre als Kindermädchen nach Alaska. Zurück in Deutschland leitete sie jahrelang große Kindergärten. Mit Anfang 40 bewarb sich Hertzsch beim SOS-Kinderdorf. Sie wollte dauerhafte Beziehungen leben, in den Kindergärten aber hatte sie immer nur den kurzen Lebensabschnitt bis zum Übertritt in die Grundschule mitbekommen. Das reichte ihr nicht mehr.

Als sie vor drei Jahren ihre eigene SOS-Familie gründete, war das Haus noch nicht fertig renoviert. Sie saß in einer möbellosen Wohnung - mit einem fünf Jahre alten Jungen und einem vier Monate alten Baby. Nach acht Wochen war alles eingerichtet, und die Familie war schon wieder um zwei Kinder gewachsen: Wie die ersten zwei waren die beiden Geschwister, zwei Buben, sieben und dreieinhalb Jahre alt. Später kamen noch die dreijährige Saskia und sechs Jahre alte Celina dazu.

Anke Hertzsch hat für die Wohnung viel helles Holz ausgesucht und warme Farben, rot und orange. Auf den Fotos an der Esszimmerwand tragen die Mädchen Dirndl, die Jungen Hemden. Das war an Weihnachten im vergangenen Jahr. "Da haben wir uns alle herausgeputzt. Das ist mir wichtig an Weihnachten". Für die meisten ihrer Schützlinge war es das erste Mal, dass sie einen Christbaum in einer Wohnung gesehen haben. Sie wussten gar nicht, dass es so etwas gibt. Die Kinder erleben hier vieles zum ersten Mal: Viele von ihnen waren noch nie im Schwimmbad, bevor sie ins SOS-Kinderdorf kamen, wussten nicht, wie das ist, wenn man in Gummistiefeln im Matsch watet oder Schnecken im Regen sammelt.

Hertzsch steht täglich um halb sechs in der Früh auf, macht Milch warm, schmiert Schulbrote. Um sieben weckt sie die Schulkinder. Mittags versucht die 45-Jährige, sich eine kleine Pause zum Zeitunglesen zu verschaffen, denn ab dem frühen Nachmittag ist das Programm voll mit Reittherapie, Fußball, Mädchengruppe, Spielplatz. Um halb sechs wird geduscht, von sechs bis halb sieben ist Abendessen, dann gibt es eine Gutenachtgeschichte für die Jüngeren und später noch Vorlese-Zeit für die Älteren. Camillo, der bald elf wird, darf bis halb neun aufbleiben. Dann telefoniert Hertzsch manchmal noch mit Freunden und Familie, oft schreibt sie aber noch das Tagesprotokoll, rechnet das Wirtschaftsbuch ab, bereitet Hilfeplangespräche vor, schreibt Dienstpläne oder liest Berichte der Jugendämter - eine SOS-Mutter muss Rechenschaft ablegen.

"Man macht sich vorher nicht so klar, wie sehr man das Privatleben umkrempeln muss", sagt sie. Ihr steht ein freier Tag pro Woche zu, meist sammelt sie die aber an und nimmt dann eine Woche auf einmal. Gerade gewöhnt sich Nancy zum Beispiel den Schnuller ab, dann wacht sie manchmal schon um halb neun wieder auf und schreit. "Sie sucht Nähe, braucht die Gewissheit, dass ich da bin. Also nehme ich Nancy oft mit zu mir. Das ist anstrengend, weil das kleine bisschen Privatsphäre am Abend dann auch noch weg ist." Aber so ist es halt, weil Kinder nicht nur ein Job sind, sondern Menschen - "wenn man gelassen reagiert, überträgt sich das."

An ihren freien Tagen fährt die SOS-Kinderdorfmutter in ihre kleine private Wohnung. "Schlafen, ausruhen, essen, wenn ich Hunger habe, vor dem Fernseher abhängen, niemanden sehen für drei Tage - das ist dann mein Programm." Echte Erholung finde sie eher bei Wander- oder Fahrradurlauben. "Ohne Urlaub würde es nicht gehen, ganz klar. Ich brauche den Abstand zur Regeneration und den Abstand zu den Kindern, um einen klaren Kopf zu bekommen und Gedanken, wie ich weitermachen kann mit ihnen", sagt Hertzsch.

Der Obstsalat ist fertig geschnitten, jedes Kind bekommt ein Schälchen davon - und einen Keks. Die Portion für Dominic, der noch bei der Reittherapie ist, stellt sie zur Seite, "der soll auch Vitamine essen". Anke Hertzsch sagt, sie habe es noch keinen Tag bereut, SOS-Kinderdorfmutter geworden zu sein. Sie will bleiben bis zur Rente - dann hat sie eine Generation großgezogen, Nancy, Saskia und die anderen sind dann alt genug, um ihre eigenen Wege zu gehen.

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