Süddeutsche Zeitung

Porträt:Zu schön

Lesezeit: 8 min

Der Amerikaner Steve McCurry ist ein Star der Fotografie, er hat Millionen Fans. Doch nun steht er ausgerechnet für die Inszenierungen in der Kritik, die ihn berühmt gemacht haben. Eine Begegnung in München.

Von Anne Backhaus

Ein Ausstellungsraum, an den Wänden Fotografien. In der Mitte sitzt ein Mann auf einer Holzbank. Der Kopf gesenkt. Steve McCurry konzentriert sich auf sein Handydisplay. Seine Füße hat er unter der Bank gekreuzt. Sie stecken in komplett schwarzen Turnschuhen, von denen er später sagen wird, dass er sie fast jeden Tag trage. McCurry, 66, hat eine Halbglatze, die restlichen Haare sind kurz und grau. Er ist einer der bekanntesten Fotografen unserer Zeit. Er fällt kaum auf in dem großen, leeren Raum.

Eine Mitarbeiterin im Amerika-Haus in München kommt zu ihm. Möchte er etwas trinken? McCurry schaut auf die Uhr, Freitag, kurz nach elf, ist das zu früh für Rotwein? Er ordert Wasser und Saft, fragt, ob wohl jemand das helle Deckenlicht ausschalten könne. Der Fotograf hat empfindliche Augen, wurde mehrmals daran operiert. Er blickt wieder auf sein Handy. Bald nähert sich ein Ausstellungsbesucher. "Entschuldigen Sie?" Keine Reaktion. "Hallo, Entschuldigung?"

"Oh, ich war hier vertieft. Was kann ich für Sie tun?" Der Mann hält einen Stapel Bilder in der Hand. "Würden Sie mir die signieren?" McCurry schaut die Ausdrucke an, darunter einige seiner bekanntesten Fotos. Nein, das möchte er nicht. "Ich verdiene damit ja mein Geld", sagt er. "Wenn Sie das auf Ebay verkaufen, nehme ich mir selbst etwas weg." Sein Fan schaut überrascht, sagt schnell: "Vielleicht nur zwei? Für mich und einen Freund." Ja, das geht. McCurry signiert ihm außerdem einige Flyer der Ausstellung. Es sind seine Fotos an den Wänden. Er ist in Deutschland, um einen Bildband vorzustellen.

Die meisten Menschen haben wohl schon mindestens ein Foto des Künstlers gesehen. Viele bejubeln seine Arbeiten, die weltweit ausgestellt werden. Allein auf Instagram hat er 1,8 Millionen Follower. McCurry, in Philadelphia geboren, studierte Geschichte und Film in Pennsylvania und heuerte 1974 als Fotograf bei einer Tageszeitung an. Nach vier Jahren verließ er die Today's Post, um als Freelancer durch Indien zu reisen. Damals begann McCurry, in Farbe zu fotografieren. Später wurde er unter anderem mit der brillanten Farbigkeit seiner Bilder weltberühmt. Diese Farbenpracht ist einer der Gründe, warum ein Foto von Steve McCurry sich auf den ersten Blick von Bildern anderer Fotografen unterscheidet. Das brachte ihm Preise wie den World Press Photo Award und die Mitgliedschaft in der Magnum-Fotoagentur ein.

Anfang dieses Jahres machte McCurry auf einmal weniger schöne Schlagzeilen. Der Fotografieblog Peta-Pixel schrieb über die Photoshop-Manipulation einiger seiner Bilder und kritisierte ihn stark. Auf dem Spiel steht seitdem McCurrys Ansehen als Fotograf - und das Ansehen seiner beispiellosen Bilder.

Deshalb wissen die meisten Menschen aber trotzdem nicht unbedingt, wie er heißt. Steve McWas? Darauf gibt es eine Antwort, die immer funktioniert: Das ist der Mann, der das Bild der jungen Afghanin gemacht hat. Ach der! Der ist toll. Das "Mädchen mit den grünen Augen" war der Auslöser seines Erfolgs. 1984 fotografierte er das paschtunische Waisenmädchen Sharbat Gula in einem Flüchtlingslager in Pakistan, vier Jahre nach der Invasion der sowjetischen Armee in Afghanistan. Die damals Zwölfjährige blickt direkt in die Kamera, um ihren Kopf ist ein rotes Tuch geschlungen. McCurry hatte zwei Minuten für das Foto, das es auf die Titelseite des Magazins National Geographic schaffte. Von dem er nie gedacht hätte, das es ihn sein Leben lang begleiten würde.

Das Bild wird oft als Ikone bezeichnet. Ist es zugleich ein Fluch? "Man kann sich nicht aussuchen, was die Leute mögen", sagt McCurry. Welches Bild hätte er sich denn ausgesucht? Er will keines nennen. Er wippt mit seinem rechten Fuß, wenn ihn eine Frage nervt. Der Fuß wippt, keine Nachfrage, der Fuß kommt zur Ruhe. Obwohl es natürlich viele Fotos gebe, sagt McCurry dann doch, bei denen er sich mehr bemüht habe. "Manchmal bin ich zwei Tage für ein Bild gewandert, klar hat das einen anderen Wert."

"Was denken Sie? Dass ich Kinder zwinge, sich eine Pistole an den Kopf zu halten und zu weinen? Ich habe nur das Foto gemacht."

Und doch: Seit zweiunddreißig Jahren erlebt er keine Ausstellung, keine Signierstunde, kein Interview ohne die Frage nach der Afghanin. "Erzählen Sie doch mal von dem Mädchen, wie war das damals?" ahmt er die Journalisten nach. Er überlegt dann laut, ob er vielleicht ein Infoblatt anfertigen solle, damit er die Fragen nicht mehr beantworten muss.

Auch an diesem Tag wird er wieder nach dem Mädchen gefragt, doch das ist ausnahmsweise in Ordnung, denn Sharbat Gula ist in Pakistan wegen eines gefälschten Ausweises verhaftet worden. McCurry hat sich umgehend für ihre Freilassung eingesetzt, sein Telefon steht nicht mehr still. Auf dem Handy hat er eben Anfragen des Nachrichtensenders Al Jazeera beantwortet. Nun ruft seine Schwester an, die mit ihr Kontakt hält, seit McCurry im Jahr 2002 das Mädchen als erwachsene Frau wiederfand. Sharbat Gula ist nun fünfundvierzig, Mutter von drei Kindern. Kurz nach McCurrys Besuch in München haben die pakistanischen Behörden sie nach Afghanistan abgeschoben. "Früher war sie das Symbol für das Leid eines Volkes, heute ist sie trauriges Sinnbild für Hunderttausende ungewollte Flüchtlinge", sagt McCurry. Die Welt, die er schon so lange bereist, habe sich sehr geändert.

Manche Kritiker werfen ihm vor, dass man ausgerechnet das in seinen Bildern nicht sehen könne. Sein neuer Bildband "Lesen" ist ein gutes Beispiel dafür. Das Buch zeigt Aufnahmen, die McCurry im Lauf der Jahre von lesenden Menschen gemacht hat. Er sagt, er hätte genauso gut ein Buch zum Thema "Schlaf" oder "Fußball" füllen können angesichts der vielen Bilder, die er in seinem Archiv habe. Nun ist es aber "Lesen" geworden. Und ja, da liest ein junger Mönch am Fenster, ein schlanker Inder liest am Bahnsteig, ein Pärchen liest am Meer. Keinem Bild ist anzusehen, wann es entstanden sein könnte. Zu keinem ist eine Jahreszahl vermerkt. "Stimmt, das hätte man eigentlich machen können", sagt McCurry und blickt sich im Raum um, als würde er seine Aufnahmen zum ersten Mal sehen.

Viele seiner Fotos zeigen Menschen an fernen Orten, in traditioneller Kleidung oder in der Nahaufnahme, immer in kräftigen Farben. Es sind Bilder, auf denen kein Handy und nur selten Leid zu sehen ist. Das ist letztlich auch Teil seines Erfolgs. Seine Fans empfinden die Zeitlosigkeit, die Entrücktheit von der oft banalen oder auch grausamen Wirklichkeit als angenehm, McCurrys Fotos laden zum Träumen ein. Von fremden Kulturen, von bunten Gewändern, von fernen Landschaften. Die Bilder wirken wie fotografische Gemälde, sie sind kunstvoll arrangiert und zeigen Augenblicke einer fantastischen Wirklichkeit fern von üblichen Reiserouten.

Seine Kritiker aber halten McCurry genau das vor. Sie sagen, seine Fotos würden ein falsches Bild vermitteln. Von Indien zum Beispiel, einem Land, das eben nicht nur schön sei. Die härteste Kritik verfasste kürzlich der Kunsthistoriker und Fotograf Teju Cole. In der New York Times bezeichnete er McCurrys Fotos als "überraschend langweilig" und viel zu rückwärtsgewandt. Insbesondere die Bilder aus Indien würden einfach nur das Bild vermitteln, was halt alle gerne von Indien hätten: ein Klischee.

Es wird kaum ein Magnumfotograf so stark angegriffen und gleichzeitig verehrt wie McCurry. Der zuckt mit den Schultern: "Beschönige ich etwas? Ich erzähle nun mal so." Dann zeigt er auf eines seiner Fotos, auf dem ein Mann auf dem Boden sitzt und Zeitung liest, hinter ihm brennt es. Das soll zu schön sein? "Ach, es ist mir egal, was die Kritiker sagen." Später am Tag macht McCurry allerdings einen Witz, der ahnen lässt, wie sehr ihn diese Kritik nervt. Da fragt ihn ein Fan, wie oft er unterwegs sei. McCurry sagt: "Ich reise dreihundert Tage im Jahr, aber nur aus Spaß, nicht zum Arbeiten. All die Kritik hat mich so deprimiert, also habe ich den Ruhestand gewählt." Der Fan schaut etwas irritiert, bis ihm jemand die Ironie erklärt.

Die schlimmste Frage, die man Steve McCurry stellen kann, ist aber nicht die nach dem afghanischen Mädchen oder nach der plakativen Exotik, die seinen Bildern innewohnt. Die schlimmste Frage lautet: "Haben Sie das Foto wirklich so aufgenommen?" Das wird McCurry von Fans gefragt, die nicht glauben können, dass seine perfekt arrangierten Bilder echte Momentaufnahmen sein sollen. Aber ja doch, versichert er dann, all die Motive habe er genau so gefunden. Wie zum Beispiel das Bild "Young Boy, Peru" eines kleinen Jungen, der sich eine Pistole an den Kopf hält und furchtbar weint. Oft wird McCurry gefragt, ober ihn etwa dazu gebracht habe, ob das eine Inszenierung sei. "Was denken Sie? Dass ich Kinder zwinge, sich eine Pistole an den Kopf zu halten und zu weinen? Er hat da gestanden und geweint! Ich habe nur das Foto gemacht."

Die Frage, die ihn so empört, stellt sich aber auch, weil McCurry eben nicht einfach nur Fotos gemacht hat. Im Mai wurde die Manipulation einiger seiner Bilder nachgewiesen. Erst tauchte nur ein Foto auf, bei dem offensichtlich ein Photoshop-Fehler passiert war. Gianmarco Maraviglia, der Direktor der Echo-Photojournalism-Agentur, teilte außerdem ein Bild von McCurry, auf dem mehrere Menschen und Dinge in einer Straßenszene wegretuschiert worden waren. Der Fotografieblog Peta-Pixel veröffentlichte dann weitere bearbeitete Aufnahmen. Inzwischen sind einige seiner Fotos im Internet als Vorher-nachher-Bilder zu finden. Fotojournalisten wie die Pulitzerpreisträgerin Candice Cusic werfen ihm vor, ästhetische Perfektion der Wahrheit vorzuziehen. Auch das Ethikkomitee der National Press Photographer's Association (NPPA) verurteilt McCurry. "Jede Änderung der journalistischen Wahrheit seiner Bilder, eine eventuelle Manipulation der Fakten, unabhängig davon, wie relevant er oder andere sie sehen, stellt eine moralische Verfehlung dar", schrieb der Vorsitzende Sean D. Elliot.

Es war ein Skandal, der sich über den Sommer nahezu verflüchtigte. Vielleicht, weil im Zeitalter der Handyfotografie die Bildbearbeitung so normal geworden ist. Vielleicht, weil viele Fotografen ihre Bilder mithilfe von Photoshop verbessern. Vielleicht aber auch, weil sich McCurry kaum zu den Vorwürfen geäußert hat. Dem Time Magazin sagte er, dass er sich trotz seiner Arbeit in Konfliktgebieten nicht als Fotojournalist, sondern als "visueller Storyteller", also eher als Künstler verstehe.

Natürlich ist Fotografie immer auch Inszenierung und somit subjektiv. International erfolgreiche Fotografen wie Andreas Gursky nutzen die digitale Bildbearbeitung als künstlerisches Ausdrucksmittel. Gursky macht allerdings nie einen Hehl aus seiner Arbeitsweise, er spielt damit. McCurry hingegen gesteht einerseits Fehler ein, will andererseits aber nichts von der Manipulation seiner Fotos gewusst haben. In einer Stellungnahme an Peta-Pixel schrieb er, dass er selten dabei sei, wenn die Fotos in seinem Studio in New York bearbeitet würden. Es sei aber nun seine Verantwortung, sich besser darum zu kümmern. Mehr will er nicht sagen. In manchen Momenten bleibt ihm jedoch nichts anderes übrig, als sich zu erklären. Zum Beispiel als eine junge Frau ihn bittet, ihren Bildband zu signieren. "Das ist für einen Freund von mir, der auch Kriegsfotograf ist", sagt sie, ihre Wangen ganz rot. "Ich bin kein Kriegsfotograf, ich bin Poet", sagt McCurry da sehr bestimmt. Die Frau entschuldigt sich. Sie wollte ihn ja nicht verärgern. Sie hat nur nicht gewusst, wie wichtig diese Definition für ihn inzwischen geworden ist.

Steve McCurry setzt seine Schiebermütze auf und gegen das matte Tageslicht eine Sonnenbrille. Wenig später, in einem Restaurant, erkennt ihn eine Frau am Nebentisch. Sie unterhalten sich, machen ein Selfie, das er ihr "später in groß" mailen will. Steve McCurry ist offen und interessiert. Er redet gerne über die Fotografie, sein Ausdrucksmedium, das er immer mehr fühlen als planen würde. Am 11. September 2001 war er zum Beispiel in New York und schoss direkt nach dem Einsturz der Türme am Ground Zero Fotos. Die Aufnahmen der Trümmer sind in ein unwirkliches Licht getaucht, sie wirken wie meisterhaft komponierte Gemälde. Dieses Licht habe ihm selbst zugesetzt, sagt McCurry. Ein so furchtbares Ereignis in so schönem Licht, das geht ja eigentlich nicht. Das habe er selbst erst gemerkt, als er die fertigen Abzüge in den Händen hielt. Was manche kritisieren, macht ihn auch besonders: Er sieht nun mal das Schöne.

Draußen auf der Straße. Das Gespräch dreht sich um das Projekt "Removed", für das der Fotograf Eric Pickersgill sämtliche Smartphones aus seinen Bildern entfernt hat. Auf einem Foto, das McCurry sich auf dem Handy ansieht, liegt ein Paar im Bett, beide starren in ihre leer retuschierten Hände, drehen sich den Rücken zu. Das Bild zeigt durch die Retusche, durch das, was fehlt, was wir sehen sollen: zwei Menschen, die wegen ihrer Handys zusammen allein sind. McCurry wird ernst: "Und? Stand da der Fotograf einfach so am Bett dieses Paars? Mitten im Schlafzimmer?" Das "Echte" in der Fotografie ist relativ, will er wohl sagen; was real ist und was nicht, liegt im Auge des Betrachters.

Steve McCurry hat die Sonnenbrille abgenommen und schaut einen direkt an. Er ist wirklich wütend.

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Quelle:
SZ vom 17.12.2016
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