Früher hat Spannekrebs seine Zeit damit verbracht, Jugendlichen die optimale Wasserlage beizubringen, und sein größtes Problem waren nervige Eltern, die glauben, immer alles besser zu wissen. "Jetzt muss ich mich auch fragen: Soll ich Yusra lieber Charity machen lassen oder sie bei Markus Lanz platzieren?" Dazwischen geht er mit Mardini und ihrer Schwester aufs Amt oder schraubt für sie Ikea-Regale zusammen. Obwohl Mardinis Eltern ebenfalls in Berlin leben, ist Spannekrebs eine Art Bruderfigur für sie. Warum tut er das, noch dazu in seiner Freizeit? Aus Idealismus, sagt Spannekrebs, "ich wollte einfach zwei Mädels helfen, hier anzukommen". Und in der Hoffnung, bei etwas Historischem dabei zu sein, vielleicht auch. "In 20 Jahren wird das Flüchtlingsteam in den Büchern der Sportgeschichte stehen."
Leute, die bei den Spielen in Rio waren, erzählen, wie Mardini von einem Event zum anderen geschleppt wurde, vom Händeschütteln mit Funktionären zum Fotoshooting auf dem Corcovado, und dazwischen wurde sie, kaum dass sie aus dem Becken geklettert war, von unzähligen Journalisten belagert. In Zeiten, in denen der internationale Spitzensport vor allem mit Doping, Korruption und anderen Skandalen in den Schlagzeilen war, kam das Mädchen mit den rehbraunen Augen und der süßen Lücke zwischen den Schneidezähnen vielen gerade recht, um die Botschaft von der Kraft des Sports in die Welt zu tragen. Dass er ein Lebensziel sein kann, auch wenn man alles andere verloren hat. Das sei schon alles sehr viel gewesen, sagt Mardini heute. Sie schwamm nicht gut, kam auf einen 40. und 45. Platz, auf den 100 Metern Kraul war nur eine Schwimmerin aus den Malediven schlechter als sie.
Mardini guckt aus dem Fenster, auf die monumentalen grauen Klötze, die das Berliner Olympiastadion säumen, Anlagen, die vom Größenwahn einer Diktatur erzählen. Glaubt sie denn, dass der Sport etwas bewirken, Hoffnung oder gar Frieden stiften kann? "Ja", sagt Mardini. "In Russland, China oder den USA passiert politisch viel Scheiß, aber dann geht man ins olympische Dorf und sieht einen russischen, syrischen und deutschen Athleten, wie sie Spaß mit einem Australier haben, und alle sagen, wir sind Freunde."
Oft werde sie gefragt, ob sie sich wie in einem Traum vorkomme mit all der Bekanntheit und dem Glamour. "Ja, aber ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich weiß, dass ich eine Verantwortung habe, weil nicht alle so verdammtes Glück hatten wie ich. Damit muss ich leben." Sie sagt das schnell und in ihrem amerikanisch gefärbten Englisch, aber sie wirkt plötzlich erwachsen, fast schwermütig.
Sie kann inzwischen etwas Deutsch, die 18-Jährige geht in die neunte Klasse. Was ihr liebstes deutsches Wort sei, fragt ein Journalist. "'Wasser'?", schlägt ihr Trainer vor. Mardini denkt nach und sagt schließlich, ihr falle jetzt nur "du Opfer" ein, denn das würden alle auf dem Schulhof sagen. Der Trainer wirft ihr einen strengen Blick zu, Mardini kichert verlegen. Man spürt ihre Angst, etwas falsch zu machen.
Das Schönste am Schwimmen ist der Moment, wenn man kopfüber ins Wasser gesprungen ist und einige Meter lang taucht. Man gleitet dahin wie schwerelos, und rundherum ist es still. Selten ist man so weit weg von allem und so für sich wie auf diesen paar Metern. Mardini wirkt manchmal, als würde sie gern in diesem Zustand verharren. Einfach mal von der Bildfläche verschwinden, nicht immer Projektionsfigur sein müssen, als Jugendliche, Sportlerin, globaler Vorzeigeflüchtling.
Doch sie macht weiter. Berlin, Potsdamer Platz im November, der Fernsehpreis Bambi wird verliehen. Scheinwerfer, roter Teppich, eine dieser Veranstaltungen, bei denen eine Branche sich selbst feiert. Leute wie Robbie Williams, Bastian Schweinsteiger oder Jogi Löw steigen aus den Limousinen und machen Selfies mit ihren Fans, später wird man sich zwischen Magnumflaschen Champagner die Kante geben. Dazwischen stehen Yusra Mardini und ihre Schwester Sarah, die einen Bambi in der Kategorie "Stille Helden" erhalten sollen. Yusra Mardini trägt ein langes taubenblaues Kleid und Ohrringe, das lange Haar hat sie hochgesteckt. Man merkt, dass es nicht ihre Welt ist, als sie vor die versammelte deutsche Showbranche tritt. Doch sie bedankt sich, aufrecht und artig wie immer, und sagt: "Damals hätten wir nicht gedacht, dass wir heute hier stehen würden."
In vier Jahren will sie zu Olympia nach Tokio
Ihre Schwester musste das Schwimmen wegen einer Verletzung aufgeben, sie lebt nun in Griechenland und arbeitet als Freiwillige an der Küste, um Flüchtlinge vor dem Ertrinken zu bewahren. Mardini sagt, sie habe das Meer nach ihrer Flucht erst mal gehasst. Doch das Wasser, das fast ihren Tod bedeutet hätte, ist ihr Element geblieben, in vier Jahren will sie es zu den Olympischen Spielen nach Tokio schaffen. Ob als Syrerin, Deutsche oder als Flüchtling, sei ihr egal.
Leicht wird das nicht. Zwar schwimmt sie inzwischen schneller als zu ihren besten Zeiten in Damaskus, wo ihr Vater sie schon mit drei Jahren zu trainieren begann, 800 Meter Kraul in neun Minuten 27. Doch ihr Körper ist für eine Schwimmerin sehr zart, ihre Grundlagen hat sie durch den Krieg und die Flucht verloren. Dazu kommt viel deutscher Vereinsalltag. Neid, Eifersüchteleien, Leute, die genervt sind vom ständigen Medienrummel.
Inzwischen sei es besser, sagt Mardini. Es ist Anfang Dezember, sie steht in Sportschuhen und Jogginghose in einer Turnhalle in Berlin-Spandau. Mardini ist für ein Programm des Berliner Senats hier, das Grundschulkinder für Sport begeistern soll, einer ihrer vielen ehrenamtlichen Termine. Jungs und Mädchen, denen man ansieht, dass sie sich sonst nicht viel bewegen, tollen zwischen Bänken und Bällen herum. Es ist der Tag, an dem die Stadt Aleppo erobert wird, die Medien sind voll mit Bildern von zerbombten Häuserschluchten und fliehenden Menschen. Mardini sagt, sie weine oft, wenn sie an Syrien denke, viele aus ihrer Familie und ihre Freunde sind noch immer dort. Einmal war sie so mitgenommen von den Nachrichten, dass sie nicht schwimmen konnte. Psychologische Hilfe habe sie nicht in Anspruch genommen, sagt sie und wechselt das Thema. Man merkt, dass sie keine Schwäche zeigen will.
Mardini rennt los, als könne sie es nicht erwarten, sich endlich wieder zu bewegen. Bindet sich einen Korb auf den Rücken, in den die Kinder Bälle einwerfen, spielt mit ihnen Fangen, lässt sich knuddeln. Sie lacht viel und wirkt gelöst, ganz in ihrem Element. Eine Schülerin, der man ansieht, dass sie am liebsten ein normaler Teenager geblieben wäre.