Süddeutsche Zeitung

Porträt:Die Wohlfühlformel

Lesezeit: 3 min

Mit 29 war Tassilo Keilmann promovierter Quantenphysiker. Jetzt testet er Wellness-Hotels - und verbindet seitdem Mathematik mit Entspannung.

Von Titus Arnu

Wellness kann auch wehtun. "Das Salz-Peeling hatte Sado-Maso-Charakter", notierte Hoteltesterin Andrea Labonte nach einer ziemlich misslungenen Abreibung. Die Behandlung namens "Limetten-Body-Scrub" hätte sich auf Arme, Beine und Rücken konzentrieren sollen, das Zitronensalz landete aber in den Augen und an noch unangenehmeren Körperstellen. Als Gesamterlebnis war dies nicht so dufte wie erhofft. Die Testerin schrieb in ihrer Kolumne: "unvergessliche Red-Eye-Effekte à la Frankenstein".

Ein anderes Mal lag die Hoteltesterin frierend in einer Öl-Lache, während die österreichische Lomi-Lomi-Therapeutin bei der Nachahmung hawaiianischer Gesänge kläglich versagte. Fazit: Tinnitus statt Entspannung.

Wellness-Tester, das klingt nach einem Traumberuf. Massagen, Gesichtsbehandlungen, Aufgüsse und supergesundes Essen, bis man nicht mehr weiß, wo hinten und vorne ist - fantastisch, oder? Nicht unbedingt. Mal sind es defekte Dampfwannen, die Verbrühungen am Hintern verursachen, mal führt ein überhitzter Sole-Pool zum Kreislauf-Knockout, mal wird die Geduld mit Walgesängen in der Bio-Sauna und esoterischem Blabla auf die Probe gestellt. Es war ein misslungenes Wellness-Wochenende in Tirol, das Andrea Labonte und ihren Mann Tassilo Keilmann auf eine Geschäftsidee brachte. "Das Essen war mies, die Massagen unprofessionell", erzählt Keilmann. Diese Enttäuschung führte vor gut zehn Jahren zur Gründung von "Wellness Heaven", einem Test-Portal für Wellnesshotels.

"Ich habe als Physiker öfters ein Jahr lang an irgendeiner Theorie herumgerechnet, manchmal fand man keine sinnvolle Lösung."

Eigentlich ist Tassilo Keilmann Quantenphysiker. Er studierte an der LMU München, machte in Cambridge seinen Master in theoretischer Physik und promovierte im Alter von 29 Jahren. Thema seiner Doktorarbeit: "Ultrakalte stark korrelierte Atome in optischen Gittern". Bis 2009 erforschte er am Garchinger Max-Planck-Institut für Quantenoptik die Zustände dieser ultrakalten Atome. Die Beschäftigung mit eher warmen Atomen und angenehmen Wellness-Zuständen war für ihn anfangs ein Hobby, wurde aber nach und nach zum Hauptberuf. Keilmann ist vermutlich der einzige promovierte Quantenphysiker in Deutschland, der sich beruflich ständig im Whirlpool herumtreibt.

Quantenphysikalisch gesehen können Atome manchmal paradox erscheinende Zustände einnehmen, bei denen sie an mehreren Orten gleichzeitig sind. Bei Menschen funktioniert die Delokalisierung leider nicht. Keilmann und seine Frau haben zwei kleine Kinder und können deshalb nicht mehr ständig selbst in Wellnesshotels reisen. Deshalb arbeiten mittlerweile 18 Tester für ihn, seine Frau schreibt unterhaltsame Kolumnen über ihre Wellnesserlebnisse, Tassilo Keilmann wertet die Testergebnisse aus und bearbeitet die Website.

Mehr als 500 Hotels haben er und sein Team ausprobiert, in Österreich, Deutschland, Italien, der Schweiz, auf den Malediven, den Seychellen und auf Mauritius. "Viele glauben, dass wir nur Urlaub machen", sagt Tassilo Keilmann, "dabei ist das tatsächlich ziemlich viel Arbeit." Fünf Kategorien bewerten die Tester: Wellness, Kulinarik, Zimmer, Lage und Service. Keilmann hat eine umfassende Bewertungsmatrix ausgeklügelt, bestehend aus mehr als 500 Punkten, die alle gecheckt werden. Zu den Kriterien zählen etwa die Aussicht vom Whirlpool, die Qualität des Orangensafts, die Anzahl der Pools und der Brotsorten beim Frühstück. Die Tester kommen nicht anonym, sie melden sich bei den Hotels an und bleiben drei Nächte. Jeder Tester probiert während des Aufenthalts zwei Treatments aus. Das Team setzt sich aus Reisejournalisten und Wissenschaftlern zusammen.

Auch Außergewöhnliches, das den Testern und Testerinnen auffällt, fließt in die Bewertung ein - etwa die kreative Wedeltechnik in der "Eventsauna" des Golf & Spa Resort Andreus in Südtirol. Dort veranstalten die Saunameister aufwendige Schwitz-Shows mit Lichteffekten, Sprühregen, Bodennebel, Rauchsäulen, Blitzen und Schwarzlicht. Beim Mohr Life Resort in Tirol wird der hauseigene Angelteich lobend erwähnt, in anderen Häusern führen ein besonders schöner Kräutergarten oder die einsame Lage mitten im Wald zur Aufwertung. Aus den fünf Einzelnoten von 0 bis 10 ergibt sich die Gesamtnote. Derzeit ist das Shangri-La Villingili Resort auf den Malediven das am besten bewertete Hotel bei Wellness Heaven in der Kategorie Spa, dicht gefolgt vom Lefay Resort am Gardasee und dem Aqua Dome im Ötztal.

Mittlerweile verdient Keilmann als Wellnesstester deutlich mehr als die meisten theoretischen Physiker. Und lebensnaher ist die Arbeit auch. "Ich habe als Physiker öfters ein Jahr lang an irgendeiner Theorie herumgerechnet, manchmal ohne Nutzen, weil man keine sinnvolle Lösung fand", sagt er. "Heute sehe ich bei meiner Arbeit konkrete Ergebnisse." Das Portal ist für die Nutzer kostenlos, das Geld kommt von den getesteten Betrieben. Teilnehmende Hotels zahlen Mitgliedsgebühren bei Wellness Heaven, egal wie sie beim Test abschneiden. Häuser mit Bewertungen geringer als 8 werden nicht aufgelistet.

Im Vergleich zur Quantenphysik ist das Arbeitsumfeld eines Wellness-Experten nicht ganz so trocken. Ihren persönlichen Wellness-Himmel erlebten Tassilo Keilmann und Andrea Labonte auf den Malediven, in einer Villa, die auf Stelzen im tropischen Wasser stand. Vom Spa-Bereich schaute man in den Dschungel, im Hintergrund rauschten sanft die Wellen. Verliert man in so einer paradiesischen Umgebung nicht den kritischen Blick? Auch in der tropischen Hitze versucht Keilmann, den kühlen Kopf des theoretischen Physikers zu behalten. "Mit meinem Algorithmus kann ich subjektive Ungenauigkeiten aus der Bewertung herausrechnen", erklärt er. "Das ist vergleichbar mit der Quanten-Statistik, da kann man auch die Unschärfe kompensieren." Die Keilmannsche Wellness-Unschärfe ist ein mathematisches Werkzeug, mit der seine Bewertungsmatrix objektiviert wird. Oder, einfacher ausgedrückt: Tassilo Keilmann hat die Wohlfühlformel gefunden.

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Quelle:
SZ vom 05.01.2018
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