Süddeutsche Zeitung

Porträt:199 Tage oben

Lesezeit: 4 min

Keine europäische Astronautin hat so viel Zeit im All verbracht wie die Italienerin Samantha Cristoforetti.

Von Alexander Menden

Das Wichtigste, das ein Astronaut mitbringen muss, ist nicht Fachwissen oder Fitness, sondern Teamfähigkeit. "Wenn ein Astronaut nicht im Team arbeiten kann, ist das schwer zu lösen", sagt Samantha Cristoforetti. "Alles andere kann man lernen."

Cristoforetti, eine drahtige, dunkelhaarige Frau mit festem Händedruck, die in gleichem Maße Freundlichkeit und Selbstsicherheit ausstrahlt, hat gut reden. Was sie alles lernen musste, um als Astronautin der Europäischen Weltraumorganisation ESA ausgewählt und auf die Internationale Raumstation (ISS) geschickt zu werden, klingt für den Laien wie eine ziemliche Herausforderung: Die heute 42-Jährige hat einen Master in Ingenieurwesen, und einen in Luft- und Raumfahrtwissenschaften. Sie spricht neben Italienisch Russisch, Deutsch, Englisch und Französisch. Sie ist Offizierin der italienischen Luftwaffe. 2016 brachte sie eine Tochter zur Welt. Und vorher, zwischen November 2014 und Juni 2015, stellte sie einen Rekord für die längste Zeit auf, die je eine europäische Astronautin im All verbracht hatte: 199 Tage und 16 Stunden.

Das würde für mehrere Biografien reichen. Aber Cristoforetti hat ihre Erfahrungen in einer einzigen aufgeschrieben. Um über "Die lange Reise" (erscheint Anfang September im Penguin-Verlag) zu sprechen, hat sie eigens ihren Urlaub unterbrochen. Entspannt sitzt sie in der Trainingshalle des Europäischen Astronautenzentrums Köln, der Stadt, in der sie seit einem Jahrzehnt lebt. Gleich nebenan stehen Nachbauten des Raumstationsmoduls "Columbus". Hier bereiten sich sonst die ISS-Astronauten auf ihre Einsätze vor.

Die Italienerin erzählt von ihrem ersten Linienflug, wie beeindruckt sie im Gang gestanden habe. Da war sie 17. Doch trotz dieses späten Jungfernflugs hegte Samantha Cristoforetti schon lange den Traum, in der Raumfahrt zu arbeiten. In "Die lange Reise" beschreibt die gebürtige Mailänderin, welche Hürden sie zu nehmen hatte, um es in die Erdumlaufbahn zu schaffen. Als Mädchen hängte sie nicht Popstars, sondern "Star Trek"-Poster in ihrem Zimmer auf. "Ich war verrückt danach. Es mag kindisch klingen, aber dieses Motto 'To boldly go where no one has gone before', das hat mich unglaublich fasziniert."

Ihr Studium führte sie nach München, Toulouse und Moskau. Im Jahr 2000 - das italienische Militär hatte gerade erst die Zulassungssperre für Frauen abgeschafft - begann sie in der Accademia Aeronautica ihre Ausbildung als Kampfpilotin. Die Teamfähigkeit, die sich in der ISS als so nützlich erweisen sollte, musste sie schon hier unter Beweis stellen: "Ich war 24, die meisten männlichen Bewerber 18 oder 19. Da musste ich Verantwortung übernehmen, und die Kommunikation war nicht immer einfach."

Hier sei der Erfahrungs-, nicht der Geschlechtsunterschied ausschlaggebend gewesen. Dabei ist sich Cristoforetti ihrer besonderen Rolle durchaus bewusst in einem Beruf, den man noch immer vor allem mit Männern assoziiert. Aber als eine Art Sprecherin sieht sie sich nicht unbedingt: "Die Leute fragen mich immer: Wie ist es, als Frau diesen Job zu machen? Aber die halbe Menschheit besteht aus Frauen - ich kann nur sagen, wie es sich als Samantha angefühlt hat, keine allgemeingültige Frauenerfahrung konstruieren."

Die Erfahrung, neben der Pilotenausbildung auch das Auswahlverfahren zum Astronautenprogramm zu durchlaufen, bezeichnet sie als "Doppelten Marathon". Aber sie bestand und begann 2009 die Ausbildung gemeinsam mit fünf weiteren Kandidaten, darunter der Deutsche Alexander Gerst. Dass sie gleich bei ihrer ersten Mission so lange oben blieb, verdankte sie übrigens einer Panne: Im Mai 2015 hatte ein russischer Weltraumfrachter mit Nachschub für die ISS die vorgesehene Umlaufbahn verfehlt und war wenige Tage darauf beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre verglüht. "Das war schon Pech", sagt Cristoforetti. Aber sie räumt auch ein, nicht unfroh gewesen zu sein, einen Monat auf der Raumstation dranhängen zu können.

Man kann leicht vergessen, dass man im Weltall ist. Solange man nicht nach draußen guckt

Über praktische Aspekte und Auswirkungen des Alltags auf der Station spricht die Astronautin sehr eloquent und nachvollziehbar. Sie beschreibt etwa, dass Kaffee - auf ihrer Mission war erstmals eine Espressomaschine an Bord - wegen der Blasen, die sich bei der Zubereitung in einem Beutel bilden, eher wie Cola aussehe. Oder dass sich die Hornhaut an den Füßen zurückbilde, weil man immer schwebt. Die Erfahrung, in der Schwerelosigkeit zu leben, könne man dagegen weniger leicht weitergeben: "Es ist schwierig, sich in der ISS ein Körpergefühl vorzustellen, wie es auf der Erde ist - und umgekehrt. Im Wasser zu schwimmen ist ähnlich, aber durch die Flüssigkeit fühlt man sich getragen und muss sich zugleich anstrengen, sie zu verdrängen. Da oben ist alles anstrengungslos."

Insgesamt könne man trotzdem leicht vergessen, dass man im Weltraum sei - "solange man nicht nach draußen guckt". So sehr sie sich bemüht habe, den unglaublichen Anblick des Globus, der sich dem Auge dann bietet, in ihrem Buch wiederzugeben, findet sie doch, es sollte auch einmal ein Dichter oder Künstler nach dort oben geschickt werden: "Durch Dichtung und Kunst wird eine Erfahrung erst universell." Auf ihre persönliche Erfahrung als Mutter angesprochen, räumt Cristoforetti ein, dass sie durch die Geburt ihrer Tochter "konservativer" geworden sei: "Ich meine das in dem Sinne, dass ich noch mehr als vorher empfinde, dass man die Erde erhalten muss."

Wann sie das nächste Mal bei einer Mission dabei sein wird, ist noch nicht klar. Die Besatzungsstärke der Internationalen Raumstation ist auf sechs Personen beschränkt; derzeit ist ihr Landsmann Luca Parmitano dort. In der Zwischenzeit hat sie unter anderem als "Crew representative" an der Planung für eine neue Raumstation in der Umlaufbahn des Mondes mitgewirkt. Unter Federführung der NASA soll es dort bis 2024 wieder Landungen geben. Wird Samantha Cristoforetti dann die erste Frau auf dem Mond sein? Auch bei dieser Frage erweist sie sich als entschiedene Realistin: "Ich glaube", sagt sie lächelnd, "das wird dann doch eher eine Amerikanerin."

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SZ vom 24.08.2019
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