Philosophischer Alltag:Für die Streitlust

Philosophischer Alltag: Kein Welterklärer, kein Moralist, kein Ideologe war dieser Michel de Montaigne - wie angenehm! "Von der Kunst, das Leben zu lieben", übersetzt und ausgewählt von Hans Stilett, Die Andere Bibliothek, 2015

Kein Welterklärer, kein Moralist, kein Ideologe war dieser Michel de Montaigne - wie angenehm! "Von der Kunst, das Leben zu lieben", übersetzt und ausgewählt von Hans Stilett, Die Andere Bibliothek, 2015

Wunderlichkeit ist kein Hindernis, um ein brillanter Essayist zu sein - siehe Michel de Montaigne. Zum Einstieg empfiehlt sich sein Band "Von der Kunst, das Leben zu lieben".

Von Christian Mayer

Am Ende eines Jahres sollte man endlich mal Zeit und Ruhe haben für die wichtigen Dinge, und das gilt selbstverständlich auch für die Bücher. Deshalb in dieser oft schnelllebigen Rubrik als kleine Silvester-Bescherung mal ein Werk, das die Jahrhunderte überdauert hat und noch immer sehr leichtfüßig daherkommt, so ungeheuer lebendig, dass man fast das Gefühl hat, einem Zeitgenossen zu begegnen.

Dabei ist der Autor ein Mann des 16. Jahrhunderts, und ein recht wunderlicher dazu. Aber eine gewisse Wunderlichkeit ist ja kein Hindernis, um ein brillanter Essayist zu sein, also ein Autor, der sich über alles Mögliche kluge Gedanken macht - über das Tanzen, über den Sex mit hinkenden Frauen, über den exzessiven Mode-Zirkus, den Frauen wie Männer veranstalten, über die Lust am Essen und am Trinken, über das Schlafen und das Träumen, über die ganz reale Möglichkeit, im nächsten Moment tot umzufallen, oder über die Besonderheiten der Tiere, von denen die Menschen eine Menge lernen können, um nur einige Beispiele zu nennen.

Lieben muss man Michel de Montaigne für seinen Mut und seine Offenheit, mit der er im philosophischen Plauderton intime Dinge aus seinem Leben ausplaudert - als Begründer der Essayistik steht er am Anfang einer langen Tradition der Selbsterforschung. Lesen sollte man ihn am besten in der Übersetzung von Hans Stilett, einem großen Montaigne- Kenner. Wer sich zum ersten Mal mit dem Autor beschäftigt, der seine politischen Geschäfte lieber ruhen ließ, um sich im Bibliotheksturm des Familienschlosses im Périgord, im Südwesten Frankreichs, dem Schreiben hinzugeben, sollte nicht gleich mit der dreibändigen Gesamtausgabe anfangen. Sondern mit einer handlichen Sammlung: "Von der Kunst, das Leben zu lieben" könnte der Anlass sein, mit diesem Autor eine lebenslange Freundschaft zu schließen, die gleichwohl zum Widerspruch herausfordert.

Wie schreibt er doch selbst: "Eine Freundschaft ist nicht lebendig und weitherzig genug, wenn ihr die Streitlust fehlt, wenn sie sich nur höflich, maßvoll und förmlich gibt, wenn sie Zusammenstöße fürchtet und sich Zwang antut, denn ohne Widerrede kann man nicht disputieren."

Nur keine falsche Höflichkeit, bloß kein Blatt vor den Mund nehmen, selbst wenn einem die Freunde schon Rippenstöße geben und sagen: "Du spinnst!" Das ist die richtige Einstellung, wenn man seine Gedanken in etwas verwandeln möchte, das die Menschen nicht nur aus Pflichtgefühl, sondern mit größtem Vergnügen lesen. Dieser Autor ist eben kein Welterklärer, kein Moralist, kein Wissenschaftler, kein Ideologe - er lässt sich treiben von originellen Ideen und witzigen Beobachtungen. Passend zur Jahreszeit erfährt der Leser übrigens auch, dass schon Montaigne oft Mühe hatte, Maß zu halten. Besonders beim Essen im geselligen Kreis, eine seiner Lieblingsbeschäftigungen - die passenden Diättipps gibt es übrigens auch in diesem Buch. Ansonsten aber kann der Autor einfach nicht an sich halten. Zum Glück!

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