Philosophie:Selbstoptimierung jenseits der Yogamatte

Frau sitzt einsam am Fenster und schaut hinaus

"Wir sitzen in einem komfortabel eingerichteten Käfig." schreibt Remo Largo

(Foto: Alexandre Chambon)

"Babyjahre" und "Kinderjahre" gehören zu den Ratgeber-Klassikern für Eltern. Jetzt präsentiert Autor Remo Largo Ideen für das Erwachsensein - eine Art Sozialdarwinismus durch die Hintertür.

Von Johan Schloemann

Wer kennt das nicht: müde im Internet gewesen oder vor dem Fernseher gesessen oder beides. Alleine oder höchstens zu zweit. "Wenn der Abend zu Ende geht, bleibt ein schales Gefühl sinnlos verbrachter Stunden zurück, weil auch die beste aller virtuellen Welten reales Zusammenleben nicht ersetzen kann." Aber ein bisschen Entspannung muss doch jedem vergönnt sein! Und vielleicht waren wir sogar den ganzen Abend auf der Suche nach etwas Wertvollem, nach Kontakten zu Abwesenden, nach interessanten Informationen, guten Geschichten, kluger Unterhaltung?

Oh nein, etwas anderes ist passiert: Wir haben uns verabschiedet vom "ursprünglichen Auftrag von Kultur, nämlich Räume für ein aktives gemeinsames Erleben zu schaffen". Mehr noch: "Wir sitzen in einem komfortabel eingerichteten Käfig." Und in dieser selbstgeschaffenen Einzelhaft herrschen immer mehr "emotionale Verunsicherung und soziale Vereinsamung".

Diese Sätze stammen aus dem neuesten Buch von Remo H. Largo. Der Schweizer Kinderarzt ist Millionen Eltern vertraut, die seine Bestseller-Handbücher zu Rate ziehen: "Babyjahre", "Kinderjahre", "Jugendjahre" und vieles mehr. Jetzt aber hat Remo Largo sein sympathisches Beratungsimperium ausgeweitet auf uns alle, auf die Erwachsenen. Das neue Buch sieht der 73-Jährige als eine notwendige Fortsetzung, ja als Summe seines Lebenswerks an: "Das passende Leben. Was unsere Individualität ausmacht und wie wir sie leben können" (S. Fischer Verlag, 480 Seiten, 24 Euro, E-Book 19,99 Euro).

Sympathisch ist Remo Largo deswegen vielen Eltern, weil seine Ratgeber ohne erhobenen Zeigefinger daherkommen. Sie teilen allgemeingültige Rezepte für den Umgang mit dem eigenen Nachwuchs, mit Kindergartenkindern und Schülern nur da mit, wo es wirklich Rezepte gibt, also nicht so oft. Stattdessen hat Largo in Langzeitstudien die Entwicklung der Kleinen beobachtet und kann auf dieser Grundlage erklären, wie sie im Allgemeinen biologisch und sozial heranwachsen, wie groß aber im Besonderen auch die individuellen Ausschläge und Bedingungen sind. Dahinter steht die vielleicht banale, aber immer wieder zu wenig beherzigte Einsicht, "dass jeder der fast acht Milliarden Menschen (...) ein einzigartiges Wesen ist".

Und so fasst Remo Largo auch in seinem neuen Buch seine Grundeinsicht zur Erziehung zusammen: "Wir können das Kind nicht wie einen Klumpen Lehm formen, aber wir können ihm entwicklungsspezifische Erfahrungen ermöglichen oder vorenthalten." So einfach und so schwierig ist das. Es bedeutet zum Beispiel, dass man Kleinkindern, anders als man früher dachte, das Krabbeln, Sitzen und Laufen nicht beibringen muss. Das lernen sie von selbst, in verschiedenem Tempo, oft auch auf verschiedenen Wegen, wenn ihnen denn nur das soziale Umfeld dafür geboten wird: Ermutigung und Geborgenheit, Freiheit innerhalb hilfreicher Grenzen. Mal mit dem Kind sprechen, singen, spielen, essen, mal einfach nur da sein.

Remo Largo heilt von Konformität und Erwartungsdruck. Zur beliebten Großelternfrage etwa: "Und, ist er/sie schon trocken?" stellt Largo, nun ja, trocken fest: "Ein früher Beginn und eine hohe Intensität der Sauberkeitserziehung beschleunigen die Entwicklung der Blasen- und Darmkontrolle nicht."

Wie diagnostiziert ein Kinderarzt eine Kulturkrise?

Wie aber kommt man als Kinderarzt von den Windeln, dem Töpfchen und dem Räuber Hotzenplotz zur großen, alten philosophischen Frage, was ein gelingendes Erwachsenenleben ausmacht? Und wie zur Diagnose einer massiven Kulturkrise, zu jenem Käfigdasein, von dem Remo Largo in dem neuen Buch schreibt, dass daran unter anderem die "räumliche und zeitliche Fragmentierung des Alltags" sowie "Leistungswettbewerb, Gewinnstreben und Konsumzwang" schuld seien?

Aufmerksame Leser von Erziehungsratgebern wissen, dass die Ratschläge schon bei zunehmendem Alter der Kinder immer ungreifbarer werden, man könnte sagen: immer bedenkenswerter und zugleich nutzloser. Das ist naturgemäß so - denn auch wenn das Wunder der Individualität mit unserer Geburt (und davor) anfängt, so tritt mit den späteren Jahren, im Schulalter, immer mehr Kultur, Charakter, Persönlichkeit und Gesellschaft vor die jedenfalls im Vergleich eher technischen Probleme der Kleinkindzeit. Und je älter die Menschen werden, mit denen sich ein Arzt in der Abteilung "Wachstum und Entwicklung" in einer Kinderklinik beschäftigt, desto mehr Weltanschauung wird eben auch in seine Beratung einfließen. Daraus erwächst dann am Ende "Das passende Leben".

"Wir sind keine Alleskönner", sagt Largo - es ist ein menschenfreundlicher Hinweis

Nun könnte man gleich schon grundsätzlich abwehren und sagen: Lasst mich doch in Ruhe mit euren Glückstipps, dies ist ein freies Land. Ich bin schon groß! Dem steht aber zweierlei entgegen, worauf Remo Largo aufgrund seiner Erfahrungen und Forschungen beharrt. Zum Ersten warnt er, jeder und jede Einzelne könne und solle die je eigene Prägung, die Anlage nicht vergessen, also all das, was uns angeboren war und was wir bis zum Pubertätsalter von 15 Jahren daraus gemacht haben, dem Alter, in dem auch die Gehirnentwicklung abgeschlossen ist.

Danach kann man natürlich noch sehr viel Neues machen, lernen und erreichen, auch weit über seine soziale Herkunft hinaus. Die Botschaft ist nicht etwa: Schuster, bleib bei deinem Leisten. Aber: "Wir sind keine Alleskönner." Zur Erklärung dieser Verschiedenheit der Menschen, ihrer Bedürfnisse und Begabungen, körperlich, kognitiv, sprachlich, musisch und so fort, greift Remo Largo weit in die Evolutionsgeschichte, in die Physiologie und Lernforschung aus. Zweck dieser menschenfreundlichen Übung: Je mehr man sich der eigenen Kompetenzen und der der anderen bewusst wird, desto besser können alle die individuellen Stärken nutzen und mit Schwächen klarkommen. Selbstverwirklichung, so verstanden, ist kein purer Egoismus: "Diese Annäherung an sein eigenes Wesen will jeder Mensch bis ins Alter fortführen."

Es wäre borniert zu sagen: Kinderarzt, bleib bei deinen Kindern

Und zweitens entkommt man einfach nicht der Gemeinschaftlichkeit. Auf diesen Punkt verwendet Remo Largo besonders viel Leidenschaft: "Wir sind im Großen und Ganzen immer noch die gleichen Wesen wie vor 200 000 Jahren." Der Mensch konnte aus der Gattungs- und Naturgeschichte zwar ausbrechen durch Kultur, Institutionen, Handel, Technik, nicht aber aus dem ererbten Bedürfnis nach Geborgenheit und Zusammenhalt. Daher die düstere Kulturkritik eines im Prinzip optimistischen Linksliberalen an den Störungen in der "Übereinstimmung" von Mensch und Umwelt - eine Kritik, die vielem gleicht, was seit je gegen die Moderne vorgebracht wurde. Daher auch Largos Forderung, Gesellschaft und Wirtschaft so umzubauen, dass wir wieder größere "Lebensgemeinschaften" mit stabilen Beziehungen und Abhängigkeiten bilden können. Er wünscht sich "neue Formen des Zusammenlebens", aber ohne den autoritären Charakter von früher.

Wie das gehen soll? Remo Largo schlägt vor: Ausbau der Mehr-Generationen-Wohngemeinschaften, hohe Erbschaftsteuer, Enteignung des Bodens zugunsten der Allgemeinheit, mehr Zeit füreinander, mehr draußen sein und Ähnliches mehr. Sonst aber, wenn wir immer einsamer und verunsicherter würden durch die monsterhafte Welt des Wettbewerbs, die wir selbst geschaffen haben, könnten die Populisten "uralte Verhaltensmuster" ansprechen und "ein Wir-Gefühl vorgaukeln, das die Menschen so sehr vermissen".

Largo entwickelt eine sozial idealistische Idee der Selbstoptimierung

Es wäre nun borniert zu sagen: Kinderarzt, bleib bei deinen Kindern. Es tut immer gut, mal den Ballast von Philosophiegeschichte und Ökonomie abzuwerfen und aus einer anderen Sicht frisch auf das Leben zu schauen. Auch sonst florieren gerade diverse Lehren vom "guten Leben". Remo Largos Bild vom Menschen ist dabei deutlich realistischer als die beliebte Marketing-Floskel vom "Sich neu erfinden". Und seine Selbstoptimierung ist eine andere, plausiblere als die, die einfach nur immer mehr Yogamatten zur kapitalistischen Leistungssteigerung auslegt. In Anlehnung an Friedrich Nietzsches "Werde, der du bist" könnte man Remo Largos Botschaft so bündeln: "Werde, der du warst."

Aber Remo Largo ist auch sozial sehr idealistisch. Wenn man den Wunsch nach Wohlstand, Entfaltung und den nach mehr Gemeinschaft konsequent zusammennimmt, dann passt das passende Leben leider immer ein bisschen hinten und vorne nicht. Largos Lehre ist auch eine Art Sozialdarwinismus durch die Hintertür, wenn auch ein freundlicher, gut gemeinter. Und "Selbstverwirklichung" steht immer in der Gefahr des Zirkelschlusses, der auch Remo Largo in seinem Buch nicht entgeht: Wenn nämlich Fälle gelingender Selbstverwirklichung beweisen sollen, was im Selbst vorher drinsteckte. Trotzdem wünscht man ihm viele Leser: auf dass wir ausbauen, was wir können, aber nicht versuchen anders und mehr zu sein, als wir sind, und das möglichst in Gemeinschaft. Aber dafür muss man die 450 Seiten Text ja auch erst mal lesen - ganz allein, abends auf dem Sofa.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: