Phänomen Crowd-Birthing:Der Kreißsaal als Bühne

-

In bestimmten Kreisen ist - abgesehen von medizinischem Personal - traute Zweisamkeit bei der Geburt des eigenen Kindes nicht mehr en vogue (Symbolbild).

(Foto: AFP)

Die Facebook-Generation gebiert vor Publikum: Einer Umfrage zufolge machen junge Frauen aus ihrer Niederkunft immer häufiger ein öffentliches Spektakel.

Von Violetta Simon

Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen, heißt es. Doch wie viele Personen braucht es, um ein Kind auf die Welt zu bringen - einen Arzt, eine Hebamme? Den werdenden Vater, dessen Mutter, die eigene Mutter? Oder vielleicht auch noch ein paar Freunde und die Nachbarschaft?

Immer mehr junge Frauen wollen offenbar die Geburt ihres Babys mit nahestehenden Menschen teilen und machen aus ihrer Niederkunft ein öffentliches Happening. Das hat eine Befragung vonn 2000 Frauen durch den Video-Blog Channel Mum, eine britische Webseite für werdende Mütter, ergeben. Der Umfrage zufolge würden sich dabei bis zu 15 Personen die Klinke der Kreißsaaltüre in die Hand geben, im Durchschnitt seien es acht (das medizinische Personal nicht eingerechnet). Und alles, während die Gebärende sich windet, hechelt, vor Schmerzen stöhnt - und die Kamera läuft. Wie der britische Telegraph berichtet, hat das Phänomen einen Namen: Crowd-Birthing.

Die Wohngemeinschaft ist dabei

Doch ganz neu ist das Phänomen nicht - nur die Motivation dahinter. Als Hebamme mit 30-jähriger Erfahrung hat Christiane Schwarz schon viele solcher "öffentlicher" Geburten begleitet. In manchen Kulturkreisen wie zum Beispiel bei den weißen Maori in Neuseeland sei es sogar üblich, das Kind im Kreise der Verwandten auf die Welt zu bringen: "Der Clan zählt mehr als das Individuum, und jede Person übernimmt eine bestimmte Aufgabe".

Auch in Deutschland hat Schwarz schon erlebt, dass die Gebärende ihre komplette Wohngemeinschaft oder ihre Verwandten dabei haben wollte, etwa im Geburtshaus oder bei einer Hausgeburt. Dort sei das auch kein Problem - im Gegensatz zum Kreißsaal: "Da haben wir nicht genug Platz, es dürfen immer nur zwei Personen zur selben Zeit hinein", sagt die Hebamme. Die Besucher müssten sich daher abwechseln. "Dann halten viele Väter die Handykamera drauf und holen sich die Teilnahme und das Publikum über Facebook und Twitter herein."

Der gegenwärtige Trend des "Crowd-Birthing" basiere auf einer klaren Motivation, glaubt Schwarz: "Die junge Generation lechzt danach, wahrgenommen zu werden. Das funktioniert bei einem exotischen Ereignis wie der Geburt extrem gut - so wird die Frau quasi im eigenen Bekanntenkreis berühmt." Prinzipiell habe sie nichts dagegen, so lange die Gebärende mit der Situation klarkäme.

Der Vater musste warten - heute muss er mit

In den vergangenen Jahrzehnten ist die Zahl der im Kreißsaal anwesenden Personen von Generation zu Generation kontinuierlich gestiegen. Vor 50 Jahren hatten werdende Väter in den Krankenhausfluren auszuharren, bis die Angelegenheit über die Bühne und sowohl Mutter als auch Baby in einen präsentablen Zustand gebracht worden waren. Mit der Verbreitung von Videokameras durften Väter der Geburt beiwohnen - und bald darauf mussten sie das auch, selbst wenn sie eigentlich nicht wollten. Wenig später wurde noch die Mutter dazu eingeladen - die beliebteste Begleitperson, dicht gefolgt von Schwiegermüttern. Eine von 25 Frauen möchte gar den eigenen Vater dabei haben. Und fast ein Viertel der Gebärenden teilt ihre Erfahrung im Internet.

In Zeiten von Facebook und Instagram werden täglich Ultraschallbilder und wachsende Bäuche ins Netz geschickt, um die Welt über den aktuellen Zustand von Mutter und Kind auf dem Laufenden zu halten - und das Geburtsbett wird zunehmend als Bühne zur Selbstdarstellung genutzt: Stolze Väter posten noch aus dem Kreißsaal erste Bilder vom Nachwuchs. Andere twittern im Minutentakt Botschaften und Fotos über den Kopf der erschöpften Mutter hinweg an die Crowd, wie z.B. Musiker Robbie Williams, der während der Geburt seines Sohnes eine Art Social-Media-Performance veranstaltete. Während seine Frau hingebungsvoll presste, hielt der Sänger ziemlich beiläufig ihr linkes Bein in die Höhe und gab seinen Song "Frozen" zum Besten. Im Hintergrund: zwei ältere Damen unbekannter Herkunft, vermutlich die Großmütter.

Die Ehre der kollektiven Geburt

Channel Mum-Gründerin Siobhan Freegard findet nichts dabei, wenn Schwangere ihre Niederkunft im Kreise ihrer Lieben zelebrieren möchten: "Die jüngere Generation ist es gewohnt, jeden Aspekt ihrer Lebenswirklichkeit mit anderen zu teilen, warum nicht auch die Geburt?" Viele Frauen würden eine Geburt als ihre größte Leistung empfinden und wollen deshalb alle ihnen nahestehenden Menschen daran teilhaben lassen. Natürlich sei Crowd-Birthing nicht jedermanns Sache. "Doch Teil einer Geburt zu sein, ist eine Ehre und ein Privileg, das Freunde und Familie vereint wie kein anderes Erlebnis."

Was manche von ihnen bis zu ihrem Auftritt womöglich nicht bedacht haben: Je öffentlicher das Ereignis Geburt wird, desto mehr wächst der Druck. Drei von fünf Frauen glauben, dass die Gebärenden durch die wachsende Öffentlichkeit zunehmend in Konkurrenz zueinander treten. Der Umfrage zufolge würde ein Drittel der Schwangeren befürchten, wegen der Einnahme von Schmerzmitteln von den Anwesenden verurteilt zu werden. Immerhin 15 Prozent fühlen sich von Prominenten unter Druck gesetzt, die ihre Niederkunft scheinbar mühelos absolvieren, wie zum Beispiel Supermodel Gisele Bündchen, die in einem Interview behauptete, eine Geburt "tut nicht weh".

Ob die Brasilianerin ihre beiden Kinder tatsächlich schmerzfrei entbunden hat - oder eine PDA dafür sorgte, dafür gibt es keine Beweise. Die 35-Jährige bekam ihre Tochter und ihren Sohn unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: