Süddeutsche Zeitung

Pflegende Angehörige:Rette uns, wer kann

Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler hat eine neue Krankheit entdeckt: den pflegenden Angehörigen. Nun reist er durchs Land und empfiehlt Kuraufenthalte. Dass die nicht zur Genesung reichen, sieht ein Blinder mit dem Krückstock.

Ruth Schneeberger

Es ist das richtige Signal zur falschen Zeit, dass Philipp Rösler nun eine Entlastung für pflegende Angehörige in Deutschland verspricht. Die Betroffenen sollen laut Rösler zeitlich, organisatorisch, seelisch und finanziell entlastet werden. Sie sollen mit den Pflegebedürftigen einen Tapetenwechsel durch spezielle Kuren auf Kassenkosten erhalten. Sachbearbeiter sollten flexibler über die Bewilligung von beispielsweise Rollstühlen entscheiden können.

All das hört sich gut an - für den Laien, und dies ist der Wähler in der Regel und in diesem speziellen Fall. Pflegende Angehörige mögen ein paar Zusatzwähler sein für die in ihren Umfragewerten stark geschwächte FDP, die nach ihrem Triumph im vorvergangenen Jahr nun im Umfragetief steckt. Und so zeigt sich Philipp Rösler im selbst ausgerufenen "Jahr der Pflege" nach seinen bisher gescheiterten Vorstößen milder, versöhnlicher, will auf die Menschen, sprich auf die Wähler zugehen - freilich dann immer von Kameras begleitet.

Für die Betroffenen aber, und das sind bis zu vier Millionen pflegende Angehörige in diesem Land (von rund 2,3 Millionen Pflegebedürftigen werden etwa 1,6 Millionen zu Hause betreut, hinzu zählt der Sozialverband VdK weitere 2,5 Millionen alte, gebrechliche und verwirrte Menschen, die ebenfalls von Familienmitgliedern versorgt werden, aber kein Geld aus der Pflegekasse bekommen) ist dies nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Reha-Aufenthalte für Angehörige, die von ihrer familiären Schwerstarbeit entlastet werden müssen, sind eine feine Sache - noch besser wäre es allerdings, die Finanzierung der Pflege auf vernünftige Beine zu stellen. Es klingt nach Hohn, wenn ihnen das Gefühl vermittelt wird, sie sollten doch einfach mal ausspannen, auf Staatskosten, um sich nach der Reha wieder verstärkt um ihre kranken Angehörigen kümmern zu können.

Viele dieser Familienangehörigen leisten zu Hause eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung, sie können selbst nicht oder nur in Teilzeit arbeiten, weil dafür neben der Pflege kaum Zeit bleibt. Was sie benötigen, ist ganz bestimmt Urlaub - aber ebenso wichtig wäre eine gesellschaftliche Anerkennung, eine Auseinandersetzung mit dem Thema ähnlich der Kinderbetreuung. Und das nicht nur dann, wenn sich die FDP gerade in einem Umfragetief befindet.

Lesen Sie weiter auf Seite 2, mit welchen Problemen Angehörige in der Pflege zu kämpfen haben - neben der Pflege selbst.

Viele schämen sich, ihre gesetzlich verbrieften Rechte einzufordern oder werden von Krankenkassen, Behörden, Pflegeversicherungen oder allen zusammen so mürbe gemacht, dass sie längst aufgehört haben, dafür zu kämpfen. Das zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten, weil Alter, Krankheit, Behinderung und Sterben zu den letzten Tabuthemen dieser Gesellschaft zählen. Viele fühlen sich in diesen schweren Stunden, die mitunter Jahre oder auch Jahrzehnte andauern können, von Gott und der Welt alleingelassen.

Kinder pflegen ihre Eltern oft über die Grenzen ihrer eigenen finanziellen, psychischen und körperlichen Belastbarkeit hinaus, Eltern ihre behinderten Kinder - meist übernehmen diese Aufgabe immer noch die Frauen, und auch dieses Phänomen zieht sich durch alle Altersklassen. Was sie brauchen, ist eine grundsätzliche Entlastung, keine punktuelle.

Der Münchner Pflegekritiker Claus Fussek fordert nun einen "nationalen Rettungsschirm" ähnlich wie in der Bankenkrise - weil er weiß, was die Angehörigen leisten und wie mürbe es hinter den Kulissen aussieht. Die Probleme des Pflegesystems seien seit Jahrzehnten bekannt und schöngeredet worden - um dessen "endgültiges Kollabieren" zu verhindern, brauche es nun finanzielle Intervention. Viele Angehörige würden "pflegen, bis es nicht mehr geht" - tatkräftig nur unterstützt durch illegale Haushaltskräfte. Die Familien seien nicht mehr in der Lage, die Probleme zu bewältigen. Ambulante Pflegedienste müssten bezahlbar gemacht werden - und zwar nicht nur für "20-Minuten-Auftritte", sondern für mehrere Stunden am Tag. "Wir müssen darüber genauso diskutieren wie über Kinderkrippen und Ganztagsschulen", so Fussek.

VdK-Vertreter fordern eine Grundsicherung für pflegende Angehörige - auch dies wäre ein guter Ansatz, aber noch längst nicht der Weisheit letzter Schluss.

Dass sich Politik, Verbände und Krankenkassen seit Monaten um den Pflege-TÜV streiten, ist dabei nur ein Nebenschauplatz. Hier geht es um die Wahrung beruflicher Interessen, gerade auch gegenüber Pflegekräften aus osteuropäischen Ländern - und darum, dass den Heimen die Insassen abhandenkommen, weil viele Familien immer weniger Vertrauen in diese Institutionen haben. Viele pflegende Angehörige, die sich einmal mit dem Pflege-TÜV auseinandergesetzt haben, der nicht nur für Heime, sondern auch für ambulante Pflegedienste gilt, kennen den scheinheiligen Charakter der TÜV-Noten, die Pflegedienste hauptsächlich danach zu bewerten scheinen, wie gut ihre Buchhaltung funktioniert.

Zwei Drittel der Pflegefälle werden in Deutschland zu Hause betreut - weil sie es so wollen und weil die Angehörigen es ihnen ermöglichen. Auf sie gilt es, sich bei der Reform der Pflegeversicherung zu konzentrieren. Denn es werden immer mehr.

Dass Philipp Rösler sich nicht dazu äußert, wie er das Versprochene zu finanzieren gedenkt, werfen ihm nun seine Kritiker vor. Dabei hat der 37-Jährige - abseits von wahltaktischen Erwägungen - ausnahmsweise recht: Das ist im Moment nebensächlich - denn die Situation gebietet unbedingtes Handeln, sonst schafft sie noch mehr Sozialfälle als je zuvor, nicht nur unter den Pflegenden, sondern auch unter ihren Angehörigen. Und das wird dann richtig teuer, für alle.

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