Zahlen des Familienministeriums:Jugendämter bringen immer mehr Kinder in Pflegefamilien

Zahlen des Familienministeriums: Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen in Pflegefamilien auf.

Immer mehr Kinder in Deutschland wachsen in Pflegefamilien auf.

(Foto: Catherina Hess)
  • Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Pflegefamilien hat in den vergangenen zehn Jahren stark zugenommen.
  • Etwa drei Viertel der Pflegekinder kommen aus Familien, die Hartz-IV-Leistungen oder Sozialhilfe beziehen, mehr als die Hälfte aus Alleinerziehenden-Haushalten.

Von Oliver Klasen

Es ist ein Schritt, den Jugendämter in der Regel nur dann gehen, wenn sie keine andere Möglichkeit sehen: die sogenannte Inobhutnahme, festgelegt in Paragraf 42 des achten Sozialgesetzbuches. Für Kinder, die auf Veranlasssung des Jugendamtes in Obhut genommen werden, gibt es im Prinzip zwei Möglichkeiten: Sie werden in einer pädagogischen Einrichtung, also in einer betreuten Wohngruppe oder in einem Heim untergebracht. Oder sie kommen in eine Pflegefamilie.

Die Zahl der Kinder und Jugendlichen in Pflegefamilien ist in den vergangenen Jahren stark angestiegen. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken im Bundestag hervor. Demzufolge waren im Jahr 2017 - dem letzten Jahr, für das Daten vorliegen - etwa 81 000 Kinder und Jugendliche in einer Pflegefamilie untergebracht. Verglichen mit dem Jahr 2008 ist das eine Steigerung um fast 35 Prozent. Das Jahr 2008 ist die Referenz, weil erst von diesem Jahr an jährliche bundesweite Daten zur Inobhutnahme vorliegen, zuvor wurden Zahlen zu Kindern in Pflegefamilien und Heimen lediglich alle fünf Jahre erfasst.

Was ist passiert in diesen neun Jahren? Lässt sich die Zunahme etwa mit den Entwicklungen zwischen 2015 und 2016 erklären, als viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen?

Nein, sagt Norbert Müller, kinder-und jugendpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke, der die Anfrage gemeinsam mit anderen Abgeordneten eingereicht hat. "Die Inobhutnahmen steigen seit mindestens zehn Jahren stark an, unabhängig von der Migration", sagt Müller. Ein Blick auf den Verlauf der Werte zeigt in der Tat, dass die Zahl der Kinder, die in Pflegefamilien untergebracht ist, von Anfang an kontinuierlich gestiegen ist, lediglich von 2016 auf 2017 ist die Steigerungsrate etwas kleiner als in den Jahren zuvor.

Anders stellt sich die Situation bei den Kindern und Jugendlichen dar, die in Heimen und ähnlichen Einrichtungen untergebracht sind. Auch hier ergibt sich im Vergleich der Jahre 2008 und 2017 eine Steigerung, die mit 46 Prozent sogar noch höher ist, als bei den Kindern in Pflegefamilien. Allerdings ist der Verlauf der Kurve anders. Hier gibt es in den Jahren 2015 und 2016 tatsächlich größere Steigerungsraten als in den Jahren zuvor, die sich mit der Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge erklären lassen, die damals nach Deutschland kamen. Dazu passt, dass die Zahl der Heimunterbringungen danach gesunken ist. Ungefähr auf das Niveau, auf dem sie vor der großen Migrationsbewegung lagen.

Für Fachpolitiker und Experten ist das keine Überraschung. "Viele der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge standen kurz vor der Volljährigkeit. In diesem Alter spielt die Abgrenzung von den Erwachsenen und die eigene Identitätsfindung eine große Rolle. Da ist ein Ambiente in einer betreuten Einrichtung, wo die Jugendlichen mit Gleichaltrigen zusamen sind, oft besser geeignet als die Unterbringung in einer Familie", erklärt Carmen Thiele, Referentin bei Pfad Deutschland, dem Bundesverband der Pflege- und Adoptivfamilien. Bei Jugendlichen und älteren Kinder sei der Anteil derjenigen, die in Heimen untergebracht sind, daher höher als bei kleinen Kindern.

Wenn also die Migrationsbewegung die hohe Zahl der Pflegekinder nicht erklären kann, was ist dann die Ursache?

Linken-Politiker Müller führt es auf die Armut im Land zurück. Zum einem kämen 78 Prozent der Pflegekinder ursprünglich aus Familien, die Transferleistungen, also inbesondere Hartz-IV, beziehen. Außerdem hätten 55 Prozent der Kinder, die in einer Pflegefamilie untergebracht werden, vorher bei einem alleinerziehenden Elternteil gelebt. Nicht Eltern, die an ihrer Erziehung scheitern, seien für die steigende Zahl an Pflegekindern verantwortlich, sondern eine Sozialpolitik, die Arme systematisch ausgrenze. Denkbar sei auch, dass armen Familien von den Jugendämtern weniger zugetraut werde als Familien, die materiell gut gestellt sind. "Wir dürfen die stigmatisierende Wirkung von Armut nicht unterschätzen", sagt der Linken-Politiker.

Allerdings ist der Anteil der Menschen, die von Armut bedroht sind, in den vergangenen zehn Jahren relativ konstant geblieben. Armutsgefährdet ist dem Statistischen Bundesamt zufolge etwa ein Sechstel der Bevölkerung. Armut kann den Anstieg also vermutlich nicht allein erklären, wie auch Müller einräumt. Er beobachtet eine "höhere Sensibilität" bei den Jugendämtern. Aus Sorge, einen Fehler zu machen, nähmen diese im Zweifel ein Kind lieber in Obhut, als es in der Familie zu belassen.

"Diese Kinder bringen eine anspruchsvolle Geschichte mit"

Eine plausible Reaktion auf die öffentliche Empörung, nachdem Fälle von Kindesmissbrauch ans Licht kommen, bei denen Jugendämter vermeintlich zu spät reagiert haben. Etwa im baden-württembergischen Staufen, wo die eigene Mutter ihr Kind zum Missbrauch angeboten hat. Oder im Fall Yağmur in Hamburg, wo Ende 2013 eine Dreijährige von ihrer Mutter zu Tode geschüttelt wurde. Das Jugendamt hatte das Kind kurz zuvor von einer Pflegefamilie zurück in die Obhut ihrer Eltern gegeben.

"Das Schicksal gefährdeter Kinder ist durch diese Fälle stärker in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Die Jugendämter reagieren heute im Allgemeinen schneller", bestätigt Carmen Thiele vom Pflegefamilien-Verband.

Verbesserungen habe es auch in der Betreuung der Pflegeeltern gegeben, sagt die Familientherapeutin Michaela Dittmar-Wübbold aus Oldenburg, die in der Jugendhilfe tätig ist, Pflegeeltern berät und selbst Pflegemutter ist. "Früher gab es meist nur einen Vorbereitungskurs und das war's. Heute bieten Jugendämter und freie Träger eine Vielzahl an Fortbildungen und Beratungsangeboten an, die Eltern wahrnehmen können, wenn das Kind bereits in der Familie ist".

Das ist mitunter ein langer Zeitraum. Im Durchschnitt verbleiben Kinder 30 Monate in einer Pflegefamilie, wie aus der Antwort auf die Linken-Anfrage hervorgeht. Eigentlich ist die Inobhutnahme eine vorübergehende Maßnahme. Sobald die Krise überstanden und die Gefahr für das Kind abgewendet ist, soll es wieder zurück in seine ursprüngliche Familie, so die Idee. Pflegekinder sind häufiger traumatisiert als andere Kinder, haben Gewalterfahrungen gemacht, sind verhaltensauffällig oder leiden an einer psychischen Störung. Das kann für die Pfleeltern und deren Familie eine Belastung sein. "Diese Kinder bringen eine anspruchsvolle Geschichte mit", sagt Thiele. Die Referentin vom Pflegefamilien-Verband sieht große regionale Unterschiede in der Frage, wie Pflegeeltern von den Behörden betreut werden. Dafür gibt es keine einheitlichen Vorgaben. Jede Kommune entscheidet selbst.

Linken-Politiker Müller kritisiert, dass der Staat zu wenig Geld für die Prävention ausgibt, für Maßnahmen also, die bewirken, dass es gar nicht erst dazu kommt, dass ein Kind aus seiner Familie herausgerissen werden muss. Dass verstärkt auf Inobhutnahmen gesetzt wird, will er nicht als pauschale Kritik an den Jugendämtern verstanden wissen. Deren Mitarbeiter müssten oft mehr als 100 Familien betreuen, zugleich seien die Pflichten zur Dokumentation gesteigen. Da sei es verständlich, dass im Zweifel kein Risiko eingegangen werde.

Das Familienministerium sieht die steigende Zahl der Pflegekinder nicht als kritisch an. Das sei eher ein Indiz, "dass die Jugendämter gute Arbeit leisten", sagt Ministeriumssprecher Andreas Audretsch. Dass es in der Gesellschaft eine höhere Sensibilität für das Kindeswohl gebe, sei eine "gute Entwicklung", zum Beispiel im Hinblick auf die gewachsene Aufmerksamkeit für Missbrauchsfälle. Die Bundesregierung fördere darüberhinaus Kinder aus einkommensarmen Familien, etwa mit dem sogenannten "Starke-Familien-Gesetz". Es sieht Entlastungen etwa bei den Kita-Gebühren und höhere Geldleistungen für Kinder aus einkommensarmen Familien vor.

Für Familien, die Pflegekinder aufnehmen, übernimmt der Staat die Kosten für den Unterhalt des Kindes und die Aufwendungen für die Pflege und Erziehung. Je nach Alter des Kindes erhalten Pflegeeltern eine Summe von bis zu 1000 Euro. Die Kosten für eine Heimerziehung liegen meist um ein Vielfaches höher. Linken-Politiker Müller vermutet daher, dass die Zahl der Pflegekinder auch aus Kostengründen zunimmt. Natürlich sei eine Pflegefamilie in der Regel besser als ein Heimplatz. Eines dürfe jedoch nicht sein: "Dass die Kassenlage darüber entscheidet, wie das Jugendamt reagiert".

(Mit Material der Nachrichtenagenturen)

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