Perücke statt Haare:Ein neues Selbstbewusstsein

Mit ihren Haaren verlieren Krebspatientinnen auch ein Stück Normalität. In einem Berliner Perückengeschäft erhalten sie es zurück.

Maurice Wojach

Dieses verdammte Prasseln. Wie Hagelkörner stoßen die Wassertropfen aus dem Duschkopf auf die ungeschützte Kopfhaut. Wenn sie an ihr abprallen, entsteht dieses "klatschende Geräusch". Seit der Chemotherapie vor rund drei Jahren kennt Karla Friedrich, 47, das Prasseln auf ihrem Kopf. Damals fielen ihre aschblonden Haare büschelweise aus.

Ein neues Selbstbewusstsein, Perücken

Eine schöne Frisur bedeutet Paula Kage (oben) und Karla Friedrich (unten) immer noch viel. Auch wenn sie nicht mit ihren eigenen Haaren, sondern mit Perücken experimentieren.

(Foto: Foto: Jan Schwartz/oh)

An das Prasseln hat sie sich bis heute nicht gewöhnt. "Sie müssen sich das so vorstellen": Ihre geballte Faust schlägt in die hohle Hand - so dumpf und plötzlich wie eine Ohrfeige, die kurz, aber schmerzhaft das Gesicht trifft. Immer und immer wieder. Und als man sich schon fast die Ohren zuhalten will, beginnt Karla Friedrich zu lächeln.

Sie hat es sich auf einer roten Couch gemütlich gemacht, hinter ihr kämmt eine Mitarbeiterin einige der fast eintausend Kunstfrisuren in dem Zweithaarladen "Die Perücke" in Berlin-Steglitz. "Auffrischen" nennen sie das. Karla Friedrichs Perücke ist schon aufgefrischt - der Pagenschnitt schimmert rötlich, ein paar Stirnfransen fallen ihr über die Bügel der Designerbrille ins Gesicht.

"Haare bedeuten für mich vor allem Normalität", sagt die Diplom-Psychologin. Nach der Diagnose Brustkrebs hatte Karla Friedrich also Angst, mit ihren Haaren auf dem Kopf die Normalität im Leben zu verlieren. Und auch diese "ganz bestimmte weibliche Identität". Zwar bewundert sie die wenigen Frauen mit dem Mut zur Kahlköpfigkeit, die Sängerin Sinead O'Connor sehe zum Beispiel "echt klasse" aus ohne Haare.

Aber Karla Friedrich weiß auch, dass glatzköpfige Frauen von vielen nicht mehr als vollwertig weiblich betrachtet werden, ihr haarloses Haupt wird zum Symbol. Passanten auf der Straße oder in der U-Bahn grübeln über die vermeintliche Rebellion, die sich unter der blanken Kopfhaut wohl abspielen muss. Oder sie bewundern den Mut, als Frau Glatze zu tragen und zu provozieren. Sie hat sich ja schon selbst dabei ertappt: "Diese Denkweise habe ich von der Gesellschaft übernommen. Ich habe einfach keine Lust, als Projektionsfläche herumzulaufen."

"Oh Gott, die arme Frau ist krank!"

Zwei Tage nach der Diagnose hat sie den warm beleuchteten Perückenladen im Einkaufszentrum Forum Steglitz zum ersten Mal besucht. Karin Gilsenbach, seit fast 40 Jahren Inhaberin von "Die Perücke", kennt diese Suche nach Normalität. Die meisten Kunden ertragen vor allem die bedauernden Blicke nicht. "Wenn ein Fremder auf ihren Kopf schaut und erkennt: Oh Gott, die arme Frau ist krank!" Daraus haben sich die Ladenverkäuferinnen in Steglitz ein Motto gemacht: "Mitgefühl statt Mitleid."

Krebspatienten wie Karla Friedrich machen etwa die Hälfte der Kundschaft in den drei Berliner Filialen von "Die Perücke" aus. Sie erhalten, je nach Krankenkasse und Bundesland, einen Zuschuss von rund 160 bis etwa 500 Euro. Wer sich mit einer Naturhaarperücke wohler fühlt als mit Kunsthaar, steht vor einer großen Investition: Bis zu 1500 Euro sind die "echten" Haare wert - viel Geld, verglichen mit den 149 bis 500 Euro für eine Kunsthaarperücke.

Gilsenbach berät auch Kunden, die sich mit Perücken und Haarteilen als Accessoires schmücken. "Zu uns kommen auch junge Frauen, die schöne Haarteile suchen, um damit mal in die Disco zu gehen." Männer sieht man in dem Laden kaum. Ab und zu setzt sich einer auf die Couch, liest ein Buch und schaut erleichtert, wenn seine Frau fertig frisiert ist.

Es ist wohl der Intuition der Verkäuferinnen zu verdanken, wenn die Krebspatientin beim ersten Anprobieren der Perücke gefasst bleibt. Auch bei Karla Friedrich suchte eine Mitarbeiterin zuerst ein Modell aus, das möglichst exakt zu ihrer natürlichen Haarfarbe passte. Für solche kritischen Momente gibt es in dem Laden, der mit seinen großen Spiegeln und Sesseln einem Friseursalon ähnelt, einen Schutzraum.

Auf der nächsten Seite: Warum der Griff zum Rasierer ein Befreiungsschlag ist, und wie eine junge Frau ohne Haare Männer kennenlernt.

Mit Perücke in die Disko

Eine abgetrennte Kabine, deren Spiegel die Verkäuferinnen manchmal sogar mit einem Tuch bedecken. Zum Beispiel, wenn sich Kunden entschließen, die verbliebenen Haare abrasieren zu lassen. Eine Kundin erzählt, dass sie diese Prozedur wie einen Befreiungsschlag erlebt hat. Sie habe selbst zum Rasierer gegriffen und es noch nicht mal ihrem Mann angekündigt. Und: "Ich habe in den schlimmsten Wörtern mit meinem Krebs geschimpft." Der Griff zum Rasierer war ihr Signal an die Krankheit - auf in den Kampf.

Mehrmals ist der abgetrennte Raum an diesem Nachmittag besetzt. Als Karla Friedrich damals in der Kabine saß, hat sie sich gefühlt "wie auf einem rasenden Zug". Die erschreckende Diagnose kaum hinter sich, etliche Arzttermine und die Chemotherapie noch vor sich. Viele Ärzte empfehlen trotz des Stresses, noch vor dem möglichen Haarausfall eine Perücke auszusuchen.

Die schnelle Entscheidung erleichtere die Umgewöhnung. Das Perückengeschäft sollte für Karla Friedrich nur eine weitere Haltestelle sein - bloß abhaken. Und dann blieb sie eineinhalb Stunden im Frisiersessel sitzen. Mit den Frisuren zu spielen machte ihr Spaß, brachte sie zum Lachen. Sie blickte in den Spiegel und dachte: So siehst du aus, das sind deine Haare. Verabschiede dich jetzt davon.

Auch Paula Kage weiß, wie es ist, wenn die Haare plötzlich weg sind. Verabschieden konnte sich die heute 17-jährige Schülerin nicht. Auf einmal waren da, wo sonst glattes blondes Haar wuchs, runde kahle Flecken. Paula war zehn Jahre alt und begriff nicht, was das sollte. Auch Experten rätseln über Paulas Krankheit Alopecia Areata. Man geht von einer fehlgeleiteten Reaktion im Immunsystem aus, doch die genaue Ursache ist nicht erforscht. Mehr als eine Million Deutsche leiden darunter.

Mit Perücke in die Disco

Im Perückenladen ist Paula ein kleiner Star. Die Verkäuferinnen schwärmen von ihren schönen blauen Augen und ihrer Offenheit. Sie beugt sich vor und lächelt, als sie vom schwierigsten Aspekt ihrer Krankheit erzählt: wie die Haare - vor allem die ausgegangenen Wimpern - langsam nachwachsen und dann über Nacht wieder ausfallen. "Das ist das Schlimmste", sagt Paula. Aus den Augen kullern ein, zwei Tränen.

Für die Schülerin sind Haare "ein Teil der Persönlichkeit". Mit Paulas Perückensammlung hat sich mitten in der Pubertät also auch ihre Persönlichkeit entwickelt. Sie verbrachte ein Austauschjahr in den USA, ihre Gastmutter war zufällig auch Alopecia-Patientin. Vielleicht war es das Jahr in der Gastfamilie, das sie so offen gemacht hat: "Alle meine Freunde wissen von meiner Krankheit", sagt sie.

Zu Hause trage sie ohnehin keine Perücke. Und was ist mit den Jungs? "Ich sag' es ihnen nicht gleich beim Kennenlernen, aber wenn ich jemanden mag, dann erzähle ich es ihm." Paula kennt auch den Moment, wenn beim Tanzen in der Disco ganz kurz die Perücke verrutscht und die Kopfhaut zu sehen ist. Mittlerweile kann sie darüber lachen, es passiert nur ganz selten.

Für Halt sorgen dichtgeknüpfte Netze unter den künstlichen Haaransätzen. Viele moderne Perücken besitzen eine Silikonbeschichtung, die sich an die Kopfhaut saugt. Vor allem im Winter verformen sich die Haare, die Spitzen teilen sich auf. Dann besucht Paula mit ihren drei unterschiedlich langen braunen Perücken das Geschäft in Steglitz.

Auch Karla Friedrich experimentiert heute gerne mit ihren sieben Perücken, die sie je nach Anlass auswählt und erst zu Hause abnimmt. Eine ist schulterlang, rot und lockig. Es ist ein bisschen makaber: Erst der Krebs hat ihr die Chance gegeben, auch mal so eine richtige Mähne zu tragen. Die hätte sie auch am 22. Dezember 2006 aufsetzen können, nachdem ein Albtraum zu Ende war.

Anfang Dezember diagnostizierten die Ärzte nach der erfolgreichen Brustkrebsbehandlung ein neues Geschwür an anderer Stelle. Gemeinsam mit ihrem Mann, der nach der ersten Diagnose angeboten hatte, seine dichten graumelierten Haare gleich mitabzurasieren, entschied Karla Friedrich: "Wir haben bis jetzt alles zusammen geschafft, wir wollen jetzt ganz schnell heiraten."

Dann machten sie nach 16 Jahren ohne Trauschein einen Termin beim Standesamt. Der Tumor erwies sich als gutartig, es gab nur noch ein Problem zu lösen: Welche Perücke passt zu einem Hochzeitsfest? Friedrich überlegte lange, die rote Mähne ließ sie im Schrank. Sie fand, dass ihre hellblonde Frisur am besten passte. Auf die blonde Perücke legte sie an diesem Tag ein grünes Blumenkränzchen.

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