Per Anhalter in die Vergangenheit:"Da halten höchstens Perverse"

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In den achtziger Jahren war Trampen eine beliebte Reiseart, doch wie sieht es heute aus? Im Selbstversuch von München nach Berlin.

Arno Makowsky

Ganz wichtig ist das Schild, das sagen alle Tramper, und natürlich haben sie recht. Ein Stück Pappe, ein großes B darauf gemalt, und immer schön hochhalten, damit es von weitem auffällt. Hallo Leute, seht ihr, ich will nach Berlin! "Mit so einem Schild stehst du nicht länger als 'ne halbe Stunde, dann nimmt dich einer mit."

Das hat ein anderer Tramper gesagt, als ich das letzte Mal hier gestanden habe, ein Mann mit Erfahrung. Insofern alles okay, bis auf ein kleines Problem: Das letzte Mal war vor 22 Jahren.

Seitdem scheint sich einiges geändert zu haben. Die Auffahrt zur Nürnberger Autobahn im Münchner Norden, Betonbrücken, eine riesige Baustelle mit Baggern und Kränen, eine Gegend, in der die Stadt langsam zerfließt und die Peripherie beginnt. Seit zweieinhalb Stunden stehe ich mit meinem Pappschild am Straßenrand und warte.

Die meisten Autos fahren zügig vorbei, die Fahrer würdigen den Tramper keines Blickes. Manche bremsen etwas ab, schauen, kichern, reden mit dem Beifahrer, ich kann die Dialoge beinahe hören: "Schau mal, ein Anhalter!" - "Echt? Dass es sowas noch gibt ..."

1985 war das anders.

An der Autobahnauffahrt im Norden der Stadt warteten oft bis zu zehn Tramper, manche mit Pappschild, manche ohne, die meisten wollten nach Berlin. Einmal durch die DDR, vorbei am Rasthaus Frankenwald kurz vor der Grenze, an dessen Fassade mit großen Buchstaben stand: "Vergessen Sie nicht, Sie fahren weiter durch Deutschland."

Trampergesetz war: Neulinge müssen sich hinten anstellen und kommen als Letzte dran. Eine Regel, die viele Autofahrer ignorierten, indem sie einfach bei den gutaussehenden Frauen anhielten.

Wobei diese Fahrer immer mit dem alten Trick rechnen mussten, dass hinter dem Mädchen plötzlich zwei Jungs aus dem Gebüsch stürzten und sich mit in den Wagen drängelten, inklusive monströser Rucksäcke.

Und heute?

Man sieht keine Anhalter mehr an den Autobahnen. Kann man heute überhaupt noch trampen - zum Beispiel von München nach Berlin?

Vor 20 Jahren warteten hier bis zu zehn Tramper hintereinander, heute steht der SZ-Reporter einsam an der Autobahnauffahrt. (Foto: Foto: Catherina Hess)

Der Tramper als solcher ist ja Optimist. Er sagt sich: Gut, die letzten zwei Millionen Autos sind an mir vorbeigerast. Aber hier dieser grüne Peugeot!

Irgendwie wirkt der sympathisch, wie er angefahren kommt. Der hält hundertprozentig an, sodass ich endlich meine schwarze Tasche schnappen und auf das Auto zurennen werde ...

Der Peugeot fährt vorbei.

Sollte am Ende stimmen, was die Kollegen prophezeit hatten? "Ruf an, wenn wir dich nach zehn Stunden an der Autobahn abholen sollen", sagte einer. Eine andere: "Ich glaube, Männer über 40 sollten nicht trampen. Da halten doch höchstens Perverse."

Und vermutlich ist wahr, was in klugen Abhandlungen über Mobilität im Jahr 2007 steht: Die Leute wollen alleine sein, alleine Auto fahren, ihre Individualität genießen. Sie wollen in Ruhe die neue CD von Mark Medlock und Dieter Bohlen hören oder ein Hörbuch von Donna Leon. Tramper stören da nur. Mit denen muss man reden.

Plötzlich: Ein gelber Kangoo bremst ab, das Fenster wird heruntergekurbelt, ein freundliches Gesicht mit Sonnenbrille fragt: "Magst ein Stück mitfahren?" Wir sind gleich per du, logisch, Tramper unter sich.

Denn Max, so heißt mein Retter, ist früher auch viel per Anhalter unterwegs gewesen, in den Achtzigern. Von Beruf ist er Beleuchtungstechniker, selbständig, und baut oft aufwendige Lichtanlagen in Häuser ein, "auch in Villen und so". Jetzt muss er nach Regensburg.

Was für mich bedeutet: An der Raststätte Fürholzen ist zunächst mal Schluss, Max verlässt die A9 - meine direkte Strecke nach Berlin. "Servus, hoffentlich kommst du heute noch an!" Er hält mich für ein bisschen verrückt, das ist eindeutig. Dabei habe ich von den 529 Kilometern doch schon 19 geschafft!

Leider ist es mittlerweile halb vier Uhr nachmittags. Womöglich sollte ich jetzt gleich beherzigen, was in Tramperkreisen früher die Regel war und auch heute im Internetportal anhalterfreunde.de empfohlen wird: "Am besten, du quatschst gleich jemanden an der Zapfsäule an." Und: "Das ist total peinlich, aber beim zehnten Mal auch schon wurscht."

Klingt gut, aber ist, andererseits, dieses Anquatschen nicht Nötigung?

Und irgendwie noch schmarotzerhafter als die ganze Anhalterei sowieso schon? Ich beschließe: Leute ansprechen kommt nicht in Frage.

Also raus mit dem B-Schild und Position bezogen am Ende der Raststätte.

Im Grunde ist Trampen eine schöne, meditative Beschäftigung, die außerdem Einsichten ins Innenleben einer autoverrückten Nation erlaubt.

Der lustvoll kalte Blick, mit dem der Audi-TT-Pilot sein Fahrzeug beschleunigt. Die kreischende Kindermeute hinter den Janosch-Sonnenblenden des VW Sharan. Porschefahrer sind grundsätzlich Mitte 60, haben kurzgeschorene weiße Haare und tragen Poloshirts von Ralph Lauren. Im BMW X3 sitzen immer Frauen, die ein bisschen an Victoria Beckham erinnern.

Ich bin gerade dabei herauszufinden, ob Lastwagenfahrer heute tatsächlich noch Schnurrbärte tragen (vorläufiges Ergebnis: ja), da halten Robert und Robert mit ihrem Audi an. Nach nicht einmal 20 Minuten! Die beiden jungen Männer haben nicht nur den gleichen Vornamen, sondern auch den gleichen Beruf ("Vermögensberater"), leben in einem fränkischen Dorf und stammen beide aus Rumänien.

Sie tragen Muskelshirts, rauchen Zigaretten, im Getränkehalter steckt eine Dose Red Bull, im CD-Player läuft Hip-Hop. Robert sagt: "Wir kommen grad vom rumänischen Konsulat in München, das ist vielleicht ein Scheißladen, Mann!" Der andere Robert: "Jetzt müssen wir nach Bukarest, um meinen Geburtsort herauszufinden."

Draußen sausen die Hopfenstangen der Holledau vorüber, das Navigationsgerät sagt: "Weiter geradeaus halten." Ich frage, warum er nicht weiß, wo er geboren wurde.

Robert: "Meine Eltern sind geflohen, verstehst, und schon lange tot. Was weiß ich, wo die gewohnt haben." Ich denke: Wenn ihr nach Bukarest wollt, seid ihr auf der falschen Autobahn, sage aber nichts. Vielleicht wollen sie ja erst morgen nach Rumänien.

Für einen Tramper wäre das kein schlechter Trip, in einem Rutsch von München nach Bukarest - vorausgesetzt, man will da hin.

Ein bisschen erinnert das an die Zeit, als Anhalter ihre Reiseziele gerne an jenen der Autofahrer ausrichteten.

Es war in den Semesterferien 1986, wir waren mit dem roten VW Käfer unterwegs nach Athen - über den berüchtigten "Autoput" sollte es gehen, die gefährliche Strecke durch Jugoslawien. Auf der Salzburger Autobahn nahmen wir einen etwas schmuddeligen Anhalter mit umgeschnallter Isomatte mit.

Er fragte: "Wohin fahrt ihr?" - "Nach Griechenland, wir bleiben vier Wochen." Er: "Okay, bin dabei." (Wir haben ihn dann am Chiemsee rausgeworfen.)

Leider währt das Vergnügen mit Robert und Robert nicht sehr lange; an der Raststätte Nürnberg-Feucht lassen sie mich raus. Und nun passiert, wovon Tramper immer träumen: Nach zwei Minuten Wartezeit hält ein silbermetallicfarbener Fünfer-BMW. Drin sitzt Herr Funke, er fragt sehr höflich, ob er mich bis Leipzig mitnehmen kann.

Herr Funke spricht ziemlich sächsisch. In den 70er und 80er Jahren, so erzählt er, ist er ständig getrampt, in der DDR haben das alle gemacht, sogar eine Tramperversicherung konnte man damals abschließen. Das waren Zeiten! Manchmal, sagt Herr Funke, erzählt er seiner 17-jährigen Tochter von der DDR.

"Dann sage ich: Stell dir vor, du setzt dich mit der Gitarre in die Fußgängerzone und spielst ,Blowing in the Wind'. Und zehn Minuten später bist du verhaftet." Und die Tochter?

"Schaut mich groß an. Als ob ich von der Steinzeit rede."

Um es kurz zu machen: Meine letzte Fahrt an diesem Tag führt von Leipzig nach Oranienburg. Ich sitze bei Enrico im Wagen, einem riesigen amerikanischen Ford, der aber nur 90 fährt. Enrico, ein 31-jähriger Berliner, redet pausenlos auf mich ein: "Ick bin ja keen Öko, wa, aber die Leute, die über 20 Liter mit ihren Boliden rausblasen, die kotzen mich an, wa, jenauso wie mit den Solaranlagen, die find ick ooch bescheuert..." So in diesem Stil, drei Stunden lang.

Und ich lerne: Anhalter fahren mag zwar kostenlos sein. Aber einen Preis bezahlt der Tramper trotzdem: Er muss sich schrankenlos alles anhören, was seinem Gönner so durch den Kopf schwirrt.

Enrico setzt mich in Oranienburg ab, "leider kann ick keen Umweg machen". Die letzte S-Bahn nach Berlin fährt in fünf Minuten. Kurz vor Mitternacht komme ich am neuen Hauptbahnhof an. Elf Stunden von München nach Berlin. Früher hätten wir das ganz okay gefunden.

Ich knicke das B-Schild zusammen und stecke es in einen Papierkorb. Der rechte Arm tut weh.

© SZ vom 14.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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