Pendelnde Scheidungskinder:Von Mama nach Papa

Die Koffer-Kinder: Weil immer mehr Nachwuchs zwischen den getrennt lebenden Eltern pendelt, bietet die Bahn an den Wochenenden einen Betreuungsservice an. Sonntags müssen die Begleiter auch mal Tränen trocknen.

Caroline Ischinger

Im ICE 870 von Basel nach Berlin dröhnt Deep Purple gegen den Soundtrack von Star Wars an. Die zehnjährige Coralina Fross schüttelt ihr blondes Haar im Takt, während Smoke on the Water aus dem neuen Handy scheppert. Cedric, ihr ein Jahr älterer Bruder, führt gerade hochkonzentriert den Krieg der Sterne auf seinem Gameboy - selbstverständlich "mit einem Laserschwert", wie er stolz erklärt.

Kind in Waggon der Deutschen Bahn AG

Seit acht Jahren bietet die Deutsche Bahn für Scheidungskinder, die an den Wochenenden zwischen ihre Eltern pendeln, den Betreuungsservice "Kids on Tour" an.

(Foto: dpa)

Cedric und Coralina haben sich die Fensterplätze geschnappt, neben ihnen sitzen zwei Frauen mit schwarzen Rollkoffern, die sich von dem Gequietsche und Gebrumme nicht aus der Ruhe bringen lassen. Auf der Reservierungstafel vor dem Abteil leuchtet in blauen Buchstaben: "Kids on Tour".

Basel - Frankfurt, Frankfurt - Basel, alle zwei Wochen

Die Tour der Geschwister Fross führt aus dem südbadischen Ort Steinen nach Münster bei Frankfurt. Cedric hat seinem Meerschweinchen für das Wochenende noch eine doppelte Portion Löwenzahn serviert. Ausnahmsweise hat seine Mutter die zwei Rucksäcke gepackt, sonst machen die Kinder das selbst - ganz routiniert: Alle zwei Wochen bringt sie ihre Mutter am Freitagnachmittag in Basel zum Bahnhof, in Frankfurt holt der Vater sie am frühen Abend ab, sonntags fährt er sie mit dem Auto zurück nach Steinen. Auf der dreistündigen Hinfahrt mit dem Zug werden sie von einem ehrenamtlichen Betreuer der Bahnhofsmission begleitet.

Die Eltern von Coralina und Cedric leben seit neun Jahren getrennt, in verschiedenen Städten - wie viele der Eltern, deren Söhne und Töchter bei "Kids on Tour" mitfahren, einem Angebot der Deutschen Bahn und der Bahnhofsmissionen.

In Deutschland lebt bereits jede fünfte Familie mit einem alleinerziehenden Elternteil. Oft ist die Distanz zwischen Vater und Mutter zu groß und ihre Zeit neben dem Beruf zu knapp, als dass sie ihre minderjährigen Kinder auf der Reise am Wochenende selbst begleiten könnten - es ist schließlich emotional und auch finanziell nicht immer ganz einfach, Sohn oder Tochter beim Ex-Partner an der Türschwelle abzugeben.

Vor einigen Jahren gab es als Lösung für dieses Dilemma nur die Betreuungsangebote der Fluggesellschaften. Die Nachfrage ist groß: Bei der Lufthansa fliegen jährlich 65.000 alleinreisende Kinder mit. Seit acht Jahren können sie freitags und sonntags auf ausgewählten Strecken auch mit dem Zug fahren - die Buchungszahlen bei "Kids on Tour" sind seither stark gestiegen. Mehr als 29.000 Kinder sind schon mitgefahren, mehr als 40 Prozent nutzen das Angebot regelmäßig.

In den ersten Jahren nach der Trennung hat Isabelle Fross Cedric und Coralina mit dem Zug oder mit dem Auto zu ihrem Ex-Mann begleitet, um abends die etwa 320 Kilometer alleine zurückzufahren. Das sei körperlich "schon eine Belastung" gewesen, erinnert sie sich. Seit vier Jahren sind die Geschwister alt genug für "Kids on Tour". Die Betreuung gibt es für Kinder von sechs bis einschließlich 14 Jahren, sie kostet zusätzlich zur Fahrkarte 25 Euro pro Strecke.

"Wir kennen unsere Pappenheimer", sagt Brigitte Hoppe und schlägt im Abteil die Beine übereinander. Die 67-Jährige in Jeans und bunt gestreiftem Pulli ist schon oft mit Cedric und Coralina gereist, auch auf deren ersten Zugfahrten nach Frankfurt. "Ihr seid älter, vernünftiger und viel artiger geworden", lobt sie die beiden schmunzelnd. Seit dem Pilotprojekt ist die ausgebildete Sozialarbeiterin als Begleiterin dabei. "Ich könnte nicht den ganzen Tag zu Hause rumwirtschaften", lautet ihre Erklärung dafür, warum sie trotz strahlendem Frühlingswetter im unterkühlten ICE sitzt.

Brigitte Hoppe hat gerade den elfjährigen Massimo in Basel seinem Vater übergeben. Auf der Rückreise nach Mannheim könnte sie sich jetzt in einem anderen Abteil in Ruhe hinter einem Roman verstecken. Für Coralina und Cedric ist nämlich heute Kirstin Luy verantwortlich, die eine blaue Weste mit einem Kreuz trägt, dem Symbol der Bahnhofsmission. Aber Frau Hoppe mit den roten Haaren, der roten Brille und den roten Schuhen hat keine Lust, sich zurückzuziehen: "Manchmal ist das Reisen einfach langweilig ohne die Kinder", sagt sie.

"Wir sind nicht dafür da, der große Animateur zu sein"

Die beschäftigen sich heute selbst: Coralina bastelt rasant den Inhalt eines Überraschungseis zusammen. Cedric verkündet mit den Worten "Cool, Converter 2!", dass er in seinem Handy einen Währungsumrechner gefunden hat. "Wir sind nicht dafür da, der große Animateur zu sein", sagt Hoppe, die sich seit 20 Jahren in der Bahnhofsmission engagiert. Aber wenn den Kindern langweilig wird, sorgen die Betreuer für Unterhaltung.

Für jede Strecke auf den acht angebotenen Verbindungen gibt es einen großen Rollkoffer, gefüllt mit Sponsorengeschenken - von Malbüchern über Kartenspielen bis zu Gameboy-Programmen. Immer montags kriegt Brigitte Hoppe Bescheid, welche Kinder am Wochenende bei ihr mitfahren, sieben Werktage vor der Fahrt ist Buchungsschluss. Dann packt sie: Sind es jüngere Kinder, landen Malsachen im Spielekoffer, für die Größeren greift Hoppe nach Büchern.

"Wo ist der Spielekoffer?"

Manchmal wollen die Kinder aber einfach nur erzählen. Von der Schule oder auch von Mama und Papa und davon, dass die beiden nicht mehr zusammenleben. Nicht immer ist die Beziehung zwischen den Elternteilen dabei so eingespielt und harmonisch wie bei Cedric und Coralina. Manchmal bekommen die pädagogisch geschulten Betreuer auch mit, wie Vater und Mutter ihre Konflikte über die Kinder austragen. Die Abschiedssätze beginnen dann etwa mit den Worten "Sag deinem Vater, dass ..."

Es läge ihr aber fern, die Kinder nach ihrem Familienleben auszufragen, sagt Frau Hoppe. Wenn die Kinder zu viel erzählten, würde sie das auch mal blockieren. Natürlich fließen bei Kids on Tour aber auch Tränen, vor allem sonntags, nach dem Wochenende - da seien manche Kinder "ein bisschen durcheinander", sagt Betreuerin Kirstin Luy mit einem sanften Lächeln.

Der ICE nähert sich Offenburg. Luy streift sich für den erwarteten Neuzugang die blaue Weste über die Schultern. Paul ("bald acht") wartet schon am Bahnsteig, von einem Mitarbeiter der Offenburger Bahnhofsmission begleitet. Als Paul durch die Zugtür Frau Luy in der blauen Weste erspäht, entspannt sich sein Blick, er rast ins Abteil, der Rucksack fliegt auf den Sitz - ein "Hallo" Richtung Cedric und Coralina, man kennt sich. Die erste Frage von Paul: "Wo ist der Spielekoffer?".

Weil die Kinder oft regelmäßig auf den gleichen Strecken fahren, kennen sich einige von ihnen schon. Manche Kinder würden dann anfangen, sich über ihre Familienprobleme auszutauschen, sagt Frau Hoppe: "Wenn es zu heikel wird, sage ich einfach: Jetzt spielen wir mal Uno."

Cedric, Paul und Coralina sind von solchem Gesprächsstoff weit entfernt. Die Geschwister umwickeln sich ihre Hände gerade mit zahlreichen Lagen Verbandsmaterial. "Wir sind zusammengekracht und voll hingefallen", erklärt Coralina - so jedenfalls wollen sie ihren Vater in Frankfurt in den April schicken. An die Zugfahrten zwischen ihren Eltern scheinen sie sich gewöhnt zu haben. "Beim ersten Mal hatte ich ein bisschen Heimweh", gibt Cedric zu. Er findet Zugfahrten zwar "nicht so berauschend", aber vor allem, "weil man nicht toben und keine Ballspiele spielen kann".

Isabelle Fross war nervös, als sie ihre Kinder zum ersten Mal an der Bahnhofsmission abgab. "Aber sie haben von mir jedes Mal wieder den Ausweis und alle Daten verlangt - die Geburtstage, Adressen und Telefonnummern von allen Beteiligten", sagt die alleinerziehende Mutter. Ihr Ex-Mann muss sich bei der Abholung auch ausweisen. "Das hat uns Sicherheit vermittelt", sagt Fross.

Ein Mal ging es doch ein wenig schief: Eine Betreuerin von der Bahnhofsmission schaffte es wegen verspäteter Züge nicht rechtzeitig nach Basel. Es hieß, sie würde etwas später zusteigen, aber das war eine Fehlinformation. Cedric und Coralina mussten sich mit dem Schaffner zufriedengeben. Isabelle Fross bekam ein Entschuldigungsschreiben. Vor allem aber, sagt sie, hätten die Organisatoren schnell gehandelt. Die Kinder werden jetzt nur in den Bahnhofsmissionen direkt an die Betreuer und wieder an die Eltern übergeben.

Als der Zug in den Frankfurter Hauptbahnhof einfährt, steht am Gleis schon eine Frau in blauer Weste bereit. Kirstin Luy winkt den Kindern, ihr Auftrag ist beendet. Cedric trottet neben der jungen Dame von der Frankfurter Bahnhofsmission her. Seine Schwester hält es auf den letzten Metern nicht mehr aus: Coralina sprintet los, ihre hüftlange blonde Mähne und der Rucksack hüpfen hinterher. Papa wartet schon.

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