Partnerschaft:Drama, Baby

Lesezeit: 5 min

An schlechten Abenden fängt man vier Filme an, bis am Ende einer einschläft. (Foto: action press)

Schatz, was schauen wir heute an? Seit es Netflix gibt, müssen sich Paare einer allabendlichen Belastungsprobe stellen.

Von Max Scharnigg

Früher war nicht alles besser, nur anders. Fernsehen zum Beispiel. Man machte den Apparat an und es kam etwas, vor das sich Mann und Frau setzen konnten, bis es irgendwann zum Glück vorbei war. Fernsehprogramm war damals noch wie Wetter - fremdbestimmt und unabänderlich.

Das gilt nicht mehr, seit die Streamingkultur in Schlafzimmer und Fernseher gezogen ist. Seitdem gibt es immer und für jeden etwas Großartiges zu sehen. Aber dieses Programm rieselt nicht einfach ins Zimmer hinein, nein, der ganze amerikanische Content muss jeden Abend neu erobert werden. Oftmals von zwei eher müden Menschen, die klein und gemeinsam vor einem Gebirge aus aktuellen Serien, Fortsetzungen und neuen Staffeln, aus Filmpaketen, Stand-up-Comedians und Hunderten, wertvollen Dokumentationen liegen. Und die sich angesichts dieser Mega-Videothek im Bett die zentrale Frage stellen müssen: Was sollen wir anschauen? Ausbuchstabiert lautet sie eigentlich: Wie könnten wir via Bildschirm einen normalen Dienstagabend in letzter Minute zu einem eher überdurchschnittlichen Dienstagabend mit der genau richtigen Mischung aus Unterhaltung, Verliebtsein und gemeinsamem Tiefgang machen?

Ist das Netflix-Abo relativ neu, hat diese Frage noch wenig Schrecken. Alles ist aufregend, alles ist so verlockend, endlich lässt sich all das nachholen, wovon die anderen Paare schwärmen. Unerwartet bald allerdings tritt eine Art Entertainment-Plateauphase ein, egal, wie viele zusätzliche Abos man abschließt und egal, wie viele neue Inhalte die Streaming-Sender jeden Monat produzieren. Die Aufregung ist weg. Man hat sich in dieses Schlaraffenland hineingefressen und alles mal angebissen, so fühlt es sich an. Der erste Seh-Hunger ist gestillt, die wichtigen, großen Serien sind abgehakt.

Wir haben die Mega-Videothek in der Bettritze - und damit die Frage: Was sollen wir sehen?

Nach diesem Punkt gemeinsam weiterzugucken ist ein wenig mühsam, um nicht zu sagen: echte Beziehungsarbeit. Denn das allabendliche gemeinsame Sichten und Einigen stellt eine anspruchsvolle, neue Kommunikationsebene unter Liebenden dar. Vor allem, wenn man bedenkt, dass die Teilnehmer abends meist durch die Erwerbs- oder Erziehungsarbeit geschwächt oder durch zwei Gläser Wein diskussionsfreudig geworden sind.

Das gilt leider auch, wenn man seinen Partner sehr gut kennt. Klar, die intern festgelegte Schnittmenge jener Filme und Serien, die nicht zur Debatte stehen, schränkt dann die Auswahl ein. Und fürchterlich ist die Vorstellung, mit einem frischen Partner erst wieder einen Konsens über Jason-Statham-Filme, italienische B-Komödien oder mäßig erfolgreiche Fantasy-Serien herstellen zu müssen. Wer sich mit Trennungsabsichten trägt, sollte das unbedingt bedenken. Aber auch unter lange zugewandten Menschen mit ähnlichem Geschmack lauern genug Untiefen bei der Programmplanung. Das liegt an dem Druck, in dem riesigen Haufen einen Schatz heben zu müssen. Sicher, man hat ja gemeinsam schon Sensationsfunde gemacht. Es wird nur jeden Abend schwerer, das zu wiederholen.

Der klassische "Netflix & Chill"-Pärchenabend beginnt also so: Einer ergattert die Steuerung und sprintet, noch guter Laune, durch die Sektion "Neuzugänge". Deren Bestand hat sich seit gestern bedauerlicherweise kaum verändert. Trotzdem, und das ist der erste Zeitkiller, sichtet man alle Einträge von vorne und plaudert dabei cineastisches Halbwissen in die Tapete. Für den anderen besteht die Aufgabe in dieser ersten Sichtungsphase darin, mehrfach zu rufen: "Stopp, was ist damit?" Woraufhin der betreffende Titel kurz erörtert wird: "Da spielt aber der Dings mit, den du nicht magst", "Das soll aber nicht so toll sein", "Der ist aber von 1997, das tut in den Augen weh" und so weiter. Besonders unangenehm sind die Urteile: "Haben wir schon mal angefangen." Oder gar: "Haben wir schon gesehen." Derlei macht klar, wie viel Paarzeit man Netflix und Co. schon geopfert hat, und diese vage Ahnung bessert die Atmosphäre meistens nicht. Der Druck, jetzt was wirklich Gutes zu finden, wächst.

Nach dem fruchtlosen Sichten der Neuzugänge arbeitet man sich zu kleineren Grundsatzkontroversen vor. Zum Beispiel darüber, ob man eine der circa 16 pausierten Serien wieder aufnehmen sollte und, wenn ja, welche? Warum man manche Serien nicht weiterverfolgte, ist später schwer zu ergründen. Eine alte Serie nach langer Zeit wieder anzugehen, fühlt sich aber immer irgendwie matt an. Auch ein Nachteil an dem Überangebot - man ist so verwöhnt, man will jeden Abend frische Ware.

Sodann wird die Fernbedienung dem anderen überlassen, der sich vielleicht im Besitz einer heißen Spur wähnt. Es folgt: zähes Forschen nach Filmtiteln, die nicht verfügbar sind, nach Schauspielern, deren Namen man nicht genau kennt, oder langwieriges Erinnern dieser einen Serie, von der neulich auf jezebel.com die Rede war, die letztlich aber doch anderswo läuft. Es häufen sich die Rückschläge, die Abenduhr tickt unerbittlich, man sitzt gefühlt ewig vor dem Menü und bleibt dauernd bei den gleichen blöden Filmen hängen (immer: "The Commuter" mit Liam Neeson), die man schon deshalb niemals ansehen wird, weil sie einem wie quälende Bückware vorkommen. Jeder hat zu diesem Zeitpunkt eigene Favoriten ins Rennen gebracht, die vom anderen durch stures Weiterschalten oder Schweigen blockiert werden. Das Vetorecht des Partners kommt einem in dieser Phase sehr hinderlich vor. Aber schließlich war die Grundidee ja, dass man etwas zusammen macht.

Immerhin, man spricht miteinander, das ist ein Vorteil der Netflix-Diskurse - man hat daheim jetzt immer so eine kleine, private Feuilletonschlacht am Laufen. Aber mit welchem Vokabular soll man eigentlich im Schlafanzug zwischen "Der Ballon" von Bully Herbig und "Die Königin der Wüste" von Werner Herzog vermitteln?

Der stete Zank zeigt auch das grundlegende Problem: Es fehlen Bewertungskriterien, um das Programm mündig diskutieren und kuratieren zu können. Es wird viel mehr produziert, als man sich mit Informationen dazu anreichern könnte. Auch Menschen, die noch halbwegs an der Popkultur teilnehmen, stehen etwa ratlos vor den neuesten hauseigenen Serien und Filmen, die allesamt so ähnlich heißen wie "Orzon", "Amon", "Osiander & Kyle", "The Renovator" oder "Das wunderbare Talent des mittellosen Mr. Gilbert", und von denen bis vorgestern kein Mensch je gehört hat. Woher soll man wissen, ob sich genau dahinter die Pralinenpackung des Abends verbirgt? Die vierzeiligen Inhaltsangaben und Bewertungen der Streamingdienste sind ein Witz. Was soll man aus "79 Prozent Übereinstimmung" ableiten?

Was hier fehlt, ist eine spießige Programmzeitung mit sauberen Rezensionen

Was hier fehlt, ist eine spießige Netflix-Programmzeitung, auf echtem Papier im Zwei-Wochen-Abo, mit sauberen Rezensionen, Charts, Starinterviews, Poster und Set-Besuch. Die Veröffentlichung der Ferien-Bücherliste von Barack Obama war ja auch deswegen ein weltweit erwartetes Ereignis, weil da ein sympathischer Mensch eine klare Richtung für kulturellen Nachschub vorgab. So was wäre viel hilfreicher als die IMDB-Note oder die seltsame Art, nach der die Plattformen selbst ihre Inhalte einteilen. Wer sagt denn: "Liebling, steht dir der Sinn heute nach etwas aus dem Bereich 'Anzügliche Stand-up-Comedy' oder eher 'Bewegende europäische Serien'? "Ach nein, Schatz, wir wollen lieber im Bereich 'Schreckensvisionen der Zukunft' wühlen." Bitte, es müssen brauchbare Kategorien her, zum Beispiel: "Wes Andersons Lieblingsfilme für ein ödes Wochenende", "Für sehr miese Tage" oder "Nur lustig, wenn man betrunken ist".

Im fortgeschrittenen Findungsprozess jedenfalls stolpert das allzu empfängnisbereite Paar über die nichtssagenden Serien und Eigenproduktionen und beschuldigt sich gegenseitig der Ahnungslosigkeit. Der Schwung des Abends ist dahin. Die Zeit auch, ein ganzer Film ist gar nicht mehr drin. Absurd: Vor lauter Filmen sieht man gar nichts. Jetzt steht die greifbare Panik im Raum, den ganzen Abend mit Gefrickel und Genörgel verbracht zu haben. Kamikazeartige Überzeugungsversuche wechseln sich deshalb mit dem verzweifelten Anspielen von Trailern ab oder pseudo-fröhlichem: "Schauen wir halt mal rein."

Das häppchenweise Vorkosten scheint der einzige Ausweg, leider ist es sehr zeitintensiv. An schlechten Abenden fängt man auf diese Weise vier Sachen an, bei denen nach jeweils zehn Minuten einer von beiden abwinkt, zum Smartphone greift oder endlich einschläft. Letzteres ist immerhin das Signal an den Partner, allein manövrieren zu können. Und das geht ja seltsamerweise immer viel einfacher, macht aber auch nur noch halb so viel Spaß.

© SZ vom 13.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: